In Berlin Kreuzberg spielt sich zurzeit ein Drama ab. Etwa 40 bis 80 zum größten Teil afrikanische Flüchtlinge halten sich seit mehreren Tagen auf dem Dach der Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg auf. Sie sind am Ende ihrer Kraft, verzweifelt und zu allem bereit, auch dazu, in den Tod zu springen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden: das Recht, uneingeschränkt in Deutschland leben und arbeiten zu dürfen.
Bereits am vergangenen Dienstag hatte, wie es der grüne Baustadtrat des Bezirks Hans Panhoff nennt, ein „freiwilliger Umzug“ von über 200 Flüchtlingen begonnen, die seit eineinhalb Jahren die ehemalige Schule besetzt und seitdem unter unmöglichen Bedingungen dort ausgeharrt hatten. Die meisten begaben sich letzte Woche in die vom Senat zur Verfügung gestellten Notunterkünfte. Die „humanitäre“ Maßnahme erfolgte nicht aus Uneigennützigkeit. Dem öffentlichen Blickfeld entzogen, können die Flüchtlinge später unauffälliger abgeschoben werden.
Der „freiwillige Umzug“ erfolgte unter Beteiligung von rund 900 Polizisten, teilweise aus anderen Bundesgebieten, wie Bayern und Brandenburg. Auch die Bundespolizei leistete dem Berliner Senat „Amtshilfe“. Besonderes Aufsehen erregten Polizisten aus Thüringen, die zunächst mit umgehängter Maschinenpistole in Erscheinung traten, als ginge es darum, einen bewaffneten Aufstand niederzuschlagen. Das Gebiet um die Schule wurde durch Polizisten und Gitter weiträumig abgeriegelt, der Presse der Zugang verwehrt.
Die Flüchtlinge auf dem Dach fordern von Innensenator Frank Henkel (CDU) ein unbefristetes Bleiberecht. Dieser lehnt jede Verhandlung ab. Er verweist auf Vereinbarungen, die die Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen Dilek Kolak (SPD) mit den Flüchtlingen vom Oranienplatz getroffen hat, die bereits in Notunterkünfte der Stadt umgezogen sind, um dort auf die ihnen zugesicherten Asylverfahren bzw. deren Ergebnisse zu warten. In den meisten Fällen dürfte das die Abschiebung sein.
„Bleiberecht für alle!“ war neben anderem die Hauptforderung der Flüchtlingsbewegung, die vor zwei Jahren in Süddeutschland ihren Ausgangspunkt nahm. Menschen, die zum großen Teil aus Bürgerkriegsgebieten, für die nicht zuletzt die NATO die Verantwortung trägt, geflohen waren, verließen ihre Notunterkünfte und Flüchtlingsheime und marschierten quer durch Deutschland. Die Proteste fanden ihren Höhepunkt mit Hungerstreiks in Berlin und der Errichtung eines Camps auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Parallel hierzu erreichten mehrere Lampedusa-Flüchtlinge Berlin.
In Hamburg hatte die rigorose Härte der Politik gegenüber afrikanischen Flüchtlingen zu öffentlicher Empörung und zu Konfrontationen mit Teilen der Bevölkerung geführt. Die Polizei erklärte Teile Hamburgs zu „Gefahrengebieten“ mit polizeilichen Sondervollmachten. Für Berlin fürchteten Behörden und Politiker einen noch größeren Widerstand. Das führte zu Reibereien innerhalb des Senats und zu einem öffentlichen Konflikt zwischen dem Senat und dem Bezirk Kreuzberg.
Die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann weigerte sich, das Flüchtlings-Camp auf dem Oranienplatz durch die Polizei räumen zu lassen, unterstützte sogar Teile der Flüchtlingsforderungen. Eine Bezirksabgeordnete der Grünen übernachtete monatelang solidarisch bei den Flüchtlingen. Die Hauptforderung der Flüchtlinge, ein generelles Bleiberecht für alle, stand jedoch für Herrmann genauso außer Frage wie für Innensenator Henkel. Hier verlief ganz klar die Grenze von Solidarität und freundlicher Anteilnahme. Die Linkspartei hatte schon in Hamburg lediglich ein befristetes Bleiberecht gefordert.
Im April dieses Jahres zogen die Flüchtlinge vom Oranienplatz „freiwillig“ in Notunterkünfte des Senats. Die Lebensbedingungen waren unzumutbar geworden. Für Nahrung, medizinische Versorgung, Wärmemaßnahmen und dringend benötigte psychologische Hilfe für die zum großen Teil traumatisieren Bürgerkriegsflüchtlinge auf dem Oranienplatz reichten angeblich die Kreuzberger Kapazitäten nicht aus.
Am letzten Samstag demonstrierten 3.000 Berliner (die taz spricht von 6.000) für die Unterstützung der Flüchtlinge der Gerhart-Hauptmann-Schule. Daraufhin überbrachte der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele den Flüchtlingen ein Sonderangebot des Bezirks, das eine Räumung durch die Polizei nicht vorsieht. Die Bezirksbürgermeisterin Herrmann forderte am selben Abend in einem Gespräch mit der taz Innensenator Henkel demonstrativ auf, den verbliebenen Flüchtlingen einen Abschiebestopp zu garantieren.
Das sieht nach einem Betrug aus. Ein Abschiebestopp ist etwas ganz anderes als ein unbegrenztes Bleiberecht. Schon einmal wurde eine Abmachung gebrochen. Allen Flüchtlingen vom Oranienplatz war ein Asylverfahren in Berlin zugesichert worden, auch denen, die in anderen Bundesländern registriert sind. Heute ist davon keine Rede mehr.
Im Grunde genommen wollen auch die Grünen die Flüchtlinge loswerden – auf „gewaltfreie“ Weise: Die Flüchtlinge sollen die Aussichtslosigkeit ihrer Lage selbst begreifen und dann „freiwillig“ verschwinden. Monika Herrmann bedauert, dass die Flüchtlinge über keine „Exit-Strategie“ (eine Strategie des geordneten Rückzugs) verfügen. Wie sollten sie auch. Auf dem Dach sind hauptsächlich Afrikaner, die die unmenschliche Odyssee über das Mittelmeer, über Italien bis Deutschland hinter sich haben. Von einigen ist bekannt, dass ihre Asylanträge schon in früheren Verfahren abgelehnt wurden.
Es könnte sein, dass die Polizei der grünen Bürgermeisterin, die eine polizeiliche Räumung nach wie vor ablehnt, bald aus dem Dilemma hilft, indem sie diese nicht weiter um ihre Meinung fragt. Spätestens seit der Diskussion über die „Gefahrenzonen“ in Hamburg ist bekannt, dass auch die Berliner Polizei nach Gutdünken sogenannte „kriminalitätsbelastete Orte“ zu Zonen mit polizeilichen Sondervollmachten erklären kann, in denen wesentliche demokratische Grundgesetze außer Kraft gesetzt sind.
So verwundert es beispielsweise, dass die Polizei, die offiziell nur zur „Amtshilfe“ angefordert wurde, das Gelände der Schule für die Presse sperrte und selbst Bundestagsabgeordnete nicht durch die Absperrung ließ. Jeden Tag waren um das Schulgebäude rund um die Uhr zirka 1.000 Polizisten im Einsatz. Und immer wieder tauchten in der Presse Gerüchte auf, die Flüchtlinge besäßen Benzin und könnten das Gebäude anzünden. Momentan droht die Polizei erst einmal damit, alle Polizisten abzuziehen, wenn der Bezirk nicht bald eine Entscheidung trifft. Der Einsatz sei teuer, so Polizeipräsident Klaus Kandt.
Die Chefin der Berliner Grünen Bettina Jarasch sieht die Vorgänge in Berlin als Test für die Zukunft. „Das Thema Flüchtlinge wird verstärkt auf die Städte zukommen“, erklärt sie in der Berliner Zeitung. Der Bezirk habe den Fehler begangen, nicht schon früher die Unterstützung des Senat zu suchen. Alle müssten sich unterhaken, Bezirk, Land, Bürgergesellschaft, Kirchen. „Wir Grünen sind zu diesem gemeinsamen Vorgehen bereit, denn das Flüchtlingsthema eignet sich nicht zu parteipolitischer Profilierung.“
In dem Interview hetzt die Realo-Grüne, die auch im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken sitzt, gegen linke Verteidiger der Flüchtlinge: „Die haben die Flüchtlinge vor ihren Karren gespannt und in Kauf genommen, dass sich die Lage zuspitzt, weil das ihren politischen Zwecken gedient hat.“
In früheren Zeiten galten die Grünen in der Öffentlichkeit als Verteidiger von Migranten und Asylanten gegen Behördenwillkür. Mit ihnen verband sich für viele die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft. Heute erinnert daran nicht viel mehr, als der in Kreuzberg jährlich stattfindende „Karneval der Kulturen“.
Die Flüchtlinge fordern das demokratische Recht ein, sich den Ort, an dem man leben, arbeiten und eine Familie gründen möchte, frei zu wählen. Das humanitäre Getue der Grünen, ihr händeringender Verweis auf das EU-Recht, dem die Kommunalpolitik untergeordnet sei, ist politische Heuchelei. Die Grünen verteidigen die EU. Ihre Ablehnung des generellen Bleiberechts ist nicht weniger brutal, als Flüchtlinge einfach im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Sollte es wirklich zu tragischen Opfern unter den Flüchtlingen kommen, tragen die Grünen dafür die volle Mitverantwortung.
Während sie außenpolitisch deutsche Kriegseinsätze unterstützen, die viele Flüchtlingsströme erst erzeugen, sind sie auch innenpolitisch bereit, unter dem Deckmantel der Humanität die Interessen des deutschen Staats brutal gegen die Schwächsten der Gesellschaft durchzusetzen.