Erneut sind Beweismittel im Zuge des Prozesses gegen den „Nationalsozialistischen Untergrund“ vernichtet worden. Diesmal sogar auf Veranlassung der klageführenden Bundesanwaltschaft selbst. Das berichtet Die Welt. Danach habe die Behörde im November 2014 die Vernichtung von Asservaten des Chemnitzer Neonazis Jan Werner veranlasst.
Werner ist eine Schlüsselfigur im NSU-Verfahren, gegen ihn läuft seit 2012 ein Verfahren als Beschuldigter im NSU-Prozess. Er soll den NSU-Mitgliedern Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe beim Untertauchen geholfen haben. Ende der 1990er-Jahre war Werner Chef der sächsischen Sektion der Neonazi-Gruppe Blood & Honour.
Aufgedeckt wurde die Vernichtung durch Zufall. Der vom aktuellen NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags beauftragte ehemalige Richter Bernd von Heintschel-Heinegg hatte sich für ein Notizbuch Werners interessiert. Der Vertreter der Bundesanwaltschaft im NSU-Ausschuss erklärte dann, dass zwei Bundesanwälte am 3. November 2014 nicht nur die Vernichtung dieses Notizbuches, sondern von allen noch vorhandenen Asservaten aus dem Besitz Werners angeordnet hatten.
Zu diesem Zeitpunkt bestand bereits seit zwei Jahren ein Vernichtungsmoratorium des Bundesinnenministeriums, wonach keine Akte mit möglichem Bezug zum NSU-Komplex vernichtet werden darf. In dem Vermerk der Bundesanwaltschaft heiße es, schreibt die Welt, dass die beiden Staatsanwälte, die die Vernichtung veranlassten, zwar vom Vernichtungsmoratorium wussten, ihnen sei aber zu dem Zeitpunkt „nicht bewusst“ gewesen, „dass Jan Werner im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex steht“. Das ist absurd. Der Welt-Autor Dirk Laabs verweist darauf, dass Jan Werner nur rund zwei Wochen vor der Anordnung zur Vernichtung als Zeuge beim NSU-Prozess in München war.
Die Bundesanwaltschaft beharrt darauf, dass die Ermordung von neun Menschen mit Migrationshintergrund und einer Polizistin sowie die Bombenanschläge und Raubüberfälle ausschließlich von den beiden toten Neonazis Mundlos und Böhnhardt sowie der vor Gericht stehenden Zschäpe begangen wurden. Doch alle bisherigen Erkenntnisse sprechen eindeutig dagegen.
Ein Faktenüberblick zeigt: Das Trio muss Mittäter gehabt haben. Wer diese waren ist aufgrund der Mauer des Schweigens, Vertuschens und der Vernichtung von Beweismaterial seitens der staatlichen Behörden unklar. Daher fügt sich die aktuelle Nachricht der Beweismittelvernichtung in das bekannte Muster ein.
Die rechte Szene in Thüringen, in der sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe bewegten, wurde unter Mithilfe des dortigen Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) aufgebaut und organisiert. Die drei sowie ihre Helfer im Untergrund – darunter Tino Brandt, Ralf Wohlleben und André Kapke – waren Mitglieder des „Thüringer Heimatschutzes“, den der V-Mann Brandt mit Geldern des LfV aufgebaut hatte. Von 1994 bis 2004 zahlte ihm der Geheimdienst 200.000 DM.
Marcel Dienel, der damalige Chef der thüringischen Sektion des braunen Musiknetzwerkes „Blood and Honour“, das die drei NSU-Mitglieder jahrelang, auch im Untergrund, unterstützte, war ebenfalls V-Mann.
Verantwortlich dafür war der damalige Präsident des Thüringischen LfV, Helmut Roewer, ein vormaliger Bundeswehroffizier und Ministerialrat im Bundesinnenministerium. Roewer schreibt inzwischen für einen rechten Schweizer Verlag.
Die erste Tatwaffe (für einen Raubüberfall) und die erste Schleierwohnung wurden dem NSU jeweils von einem V-Mann des Verfassungsschutzes zur Verfügung gestellt.
Im September 2000 observierte der Verfassungsschutz die Wohnung einer rechtsradikalen Frau, in der sich auch Böhnhardt befand. Der sächsische Verfassungsschutz will ihn aber nicht erkannt haben.
Ralf Marschner, der zehn Jahre lang als V-Mann „Primus“ für das Bundesamt für Verfassungsschutz gearbeitete, hat die drei NSU-Terroristen nach ihrem Untertauchen beschäftigt, heißt es in Medienberichten. Die beiden Männer sollen in seiner Baufirma gearbeitet, Zschäpe in einem seiner Szene-Geschäfte ausgeholfen haben.
Marschners V-Mann-Führer beim Verfassungsschutz, Deckname „Richard Kaldrack“, führte gleichzeitig auch den V-Mann Thomas Richter, alias „Corelli“. Corelli arbeitete 18 Jahre für den Geheimdienst und erhielt dafür rund 300.000 Euro. Unter anderem stellte er elektronischen Speicherplatz für ein Neonazi-Magazin zur Verfügung, in dem bereits 2002 eine Grußbotschaft an den NSU erschien.
Er war Gründungsmitglied des Ku-Klux-Klans in Baden-Württemberg, in dem sich auch zwei Polizeikollegen der 2007 ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter trafen. Eine Daten-CD mit der Aufschrift „NSDAP/NSU“, die er 2005 dem Geheimdienst übergab, wurde jahrelang nicht berücksichtigt.
Der Journalist Thomas Moser, zitiert aus Protokollnotizen über eine Lagebesprechung in der Polizeidirektion (PD) Gotha vom 5. und 6. November 2011. In ihrem Zuständigkeitsbereich waren die Leichen von Mundlos und Böhnhardt im ausgebrannten Wohnwagen gefunden worden. Aus den Protokollen geht hervor, dass die Polizei in Gotha davon ausging, dass zumindest eine oder einer der drei für den Verfassungsschutz gearbeitet hatte. Im November 2011 schrieb die Leipziger Volkszeitung unter Berufung auf das Landeskriminalamt Thüringen, Zschäpe habe als V-Frau für den dortigen Geheimdienst gearbeitet.
Als im Januar 2001 in einem Laden in der Kölner Probsteigasse eine Weihnachtsdose explodierte, die jemand im Dezember zuvor hatte liegen lassen, überlebte die damals 19-jährige Mashia Malayeri nur mit Glück und schwerstverletzt. Mithilfe ihres Vaters und ihrer Schwester fertigte die Polizei damals ein Phantombild des Mannes an, der die Dose im Laden zurückgelassen hatte. Dieses hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Böhnhardt oder Mundlos. Dafür schrieb die damalige Leiterin des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen Mathilde Koller, das Phantombild weise „Ähnlichkeiten“ mit dem langjährigen Kölner Neonazi Johann Helfer, genannt „Helle“, auf. „Helle“ war seit 1989 als geheimer Mitarbeiter für den Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen tätig.
Bei dem Anschlag in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 sind unmittelbar nach der Bombenexplosion zwei Zivilbeamte der Polizei am Tatort gewesen, wie das nordrhein-westfälische Innenministerium inzwischen zugegeben hat. Warum sie dort waren, gab das Innenministerium nicht an. Die Keupstraße gehörte nicht zum Zuständigkeitsbereich der beiden, zudem sei einer der beiden Polizeihauptkommissar gewesen, ein Dienstgrad, mit dem man nicht auf Streife gehe.
Der hessische V-Mann-Führer Andreas Temme war beim Mord an Halit Yozgat in seinem Kasseler Internet-Café im April 2006 anwesend. Temme trug eine Plastiktüte bei sich, in der sich ein schwerer Gegenstand befand. An seinen Handschuhen wurden Schmauchspuren der Munition gefunden, die bei den NSU-Morden zum Einsatz kam. Einer Kollegin nannte er die Marke der Mordwaffe (Ceska), bevor dies in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Sein Vorgesetzter Gerold-Hasso Hess hatte mit ihm sein Aussageverhalten bei der Polizei besprochen.
Temme, der in seinem Heimatdorf als „Klein-Adolf“ bekannt war, führte einen Skinhead namens Benjamin Gärtner als V-Mann, der Verbindungen zum NSU hatte. Mit ihm telefonierte er an den Tagen der Morde in Kassel, Nürnberg und München. Als das Bundeskriminalamt Gärtner 2012 endlich vernehmen durfte, begleitete ihn ein Anwalt des Verfassungsschutzes. Die meisten Fragen beantwortete Gärtner nicht, dafür habe er keine Aussagegenehmigung. Die Bundesanwaltschaft hält bis heute 37 Aktenordner zu Temme mit der Begründung zurück, sie seien „irrelevant“.
Nach bisherigem Ermittlungsstand umfasste der Unterstützerkreis des NSU 129 Personen. Davon wurden 25 als Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden enttarnt.
Nachdem am 4. November 2011 das Wohnmobil von Böhnhardt und Mundlos in einem Vorort von Eisenach ausgebrannt war, fotografierte der Einsatzleiter der Feuerwehr das Innere des Mobils. Kurz darauf beschlagnahmte Polizeidirektor Michael Menzel die Bilder. Die Speicherkarte mit den Fotos wurde später gelöscht. Das Wohnmobil wurde abgeschleppt und an einen unbewachten Ort gebracht. Der Tod der beiden Neonazis bleibt ungeklärt. Die unwahrscheinlichste Version ihres Todes ist die offizielle. Danach hätten die beiden Selbstmord begangen. Bereits der Untersuchungsausschuss in Thüringen hat neun Indizien zusammengetragen, die dagegen sprechen.
Ein früherer Mitarbeiter Menzels bei der Kriminalpolizei ist Mike Wenzel, der als Staatsschützer mehrfach mit dem Thüringer Heimatschutz (THS) zu tun hatte. Wenzels Nichte wiederum war niemand anders als die Polizistin Michèle Kiesewetter. Obwohl 2007 öffentlich noch nichts über den NSU bekannt war, hatte Wenzel sofort einen Zusammenhang zwischen den damals sogenannten „Döner-Morden“ und dem Tod seiner Nichte hergestellt.
Ebenfalls am 4. November 2011 soll Beate Zschäpe die gemeinsame Wohnung des Trios in Brand gesetzt haben. Die Behauptung, sie habe selbst den Brand gelegt, wies ein Brandursachenforscher zurück. Kurz vor der Explosion gab es einen neun Sekunden langen Handy-Kontakt zwischen Zschäpe und einem Handy, das auf das sächsische Innenministerium zugelassen ist.
Die Polizei ließ die Feuerwehr, noch bevor alle Spuren gesichert werden konnten, das Zentrum der Wohnung herausreißen. Übrig blieb „ein besenreiner Tatort“. Im Schutt, der vor dem unbewachten Haus liegt, findet sich später die Ceska, mit der neun Menschen ermordet wurden. Wer sie dort fand, ist nicht dokumentiert.
In der ausgebrannten Wohnung will die Polizei auch eine graue Trainingshose von Mundlos entdeckt haben, auf der sich Blut von Kiesewetter befand. Ein Gutachten ergab jedoch, dass die Hose nicht vom Schützen getragen wurde, sondern von jemanden, der eher in der zweiten Reihe hinter dem Schützen stand. DNA-Spuren von Mundlos befanden sich auch nur in Papiertaschentüchern in der Hosentasche, aber nicht in der Hose selbst.
Drei Tage nach dem Auffliegen des NSU vernichtete ein Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, Tarnname „Theo Lingen“, zahlreiche Akten über V-Leute innerhalb des THS und des NSU-Umfelds. Im NSU-Prozess weigert sich das Gericht, sowohl den ehemaligen V-Mann-Führer „Kaldrack“ als auch „Lingen“ als Zeugen zu laden.
Zwei Verfassungsschutzbeamte fanden 2014 den 39-jährigen V-Mann Corelli tot in seiner Wohnung, kurz bevor er zu seinen Beziehungen zum NSU befragt werden konnte. Er soll an einer unerkannten Diabetes-Erkrankung gestorben sein.
Der Nazi-Aussteiger Florian Heilig hatte bereits vor dem Auffliegen des NSU behauptet, er wisse, wer Kiesewetter erschossen habe. Es seien nicht Böhnhardt und Mundlos gewesen. Acht Stunden vor seiner zweiten geplanten Vernehmung verbrannte der 21-Jährige am 16. September 2013 in seinem Auto.
Melisa M. war kurzzeitig die Freundin von Heilig. Vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landesparlaments berichtete sie, sie fühle sich bedroht und habe Angst. Sie starb Ende März 2015 plötzlich an einer Lungenembolie.
Ihr Verlobter, der 31-jährige Sascha W. aus Kraichtal in Baden-Württemberg, wurde am 8. Februar 2016 tot in seiner Wohnung aufgefunden. Die Polizei geht von Selbstmord aus.
Ob auch die Polizistin Kiesewetter eine Zeugin des NSU-Verfassungsschutz-Netzwerks war und deshalb erschossen wurde, zählt zu den mysteriösesten Fragen im NSU-Komplex. Die aus Thüringen stammende junge Polizistin passt nicht in das rassistische Opferschema des NSU. Sie hatte aber örtliche und familiäre Berührungspunkte mit der neonazistischen Szene aus der der NSU entstand.
Was hier deutlich wird, ist ein Geheimdienst, der sich jeglicher parlamentarischer und juristischer Kontrolle entzieht. Dieser Staat innerhalb des Staatsapparats weckt Erinnerungen an die Weimarer Republik, in der rechte paramilitärische Verbände gegenüber Strafverfolgung weitestgehend immun waren, enge Verbindungen zum Staatsapparat unterhielten und von diesem unterstützt wurden. Später bildeten sie eine wichtige Grundlage für die faschistischen Kampfverbände.
Bislang hat niemand ernsthaft versucht, gerichtlich den Schleier über den Verfassungsschutzämtern, den NSU und die Neonazi-Szene zu lüften. Einzige Ausnahme sind die Anwälte der Nebenklage, die im Münchener NSU-Prozess die Opferfamilien vertreten. Doch diese werden vom Gericht und der Bundesanwaltschaft ausgebremst, keine der Bundes- und Landtagsparteien unterstützt sie ernsthaft.
Im Gegenteil, eine Allparteienkoalition aus CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und Linken ist sich einig darüber, dass die Geheimdienste gestärkt, zentralisiert und über die Polizei mit Exekutivvollmachten ausgestattet werden müssen. Riefen sie unmittelbar nach dem Auffliegen des NSU vor fünf Jahren noch nach einer verstärkten Kontrolle, bewilligen sie den Verfassungsschutzämtern nun mehr Geld, mehr Personal und mehr Macht. Der „Staat im Staat“ wird zementiert.
Wie in der Weimarer Republik liegt der Grund dafür in der Vorbereitung von Kriegen und der sozialen und politischen Polarisierung der Gesellschaft. Heftige Kämpfe stehen bevor. Deshalb werden Polizei und Geheimdienste in Stellung gebracht, um jede Opposition zu unterdrücken.