Lübcke-Prozess: Gericht und Staatsanwaltschaft ignorieren Hinweise auf rechtes Terrornetzwerk

Am Montag wurde der Prozess um den Neonazi-Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main fortgesetzt. Es war der zehnte Prozesstag. Lübcke war in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Wohnhauses kaltblütig erschossen worden.

Während sich derzeit alles um den geständigen Täter Stephan Ernst dreht, der eine Tatversion nach der anderen auftischt, werden Hintergründe und -männer im Dunkeln gehalten. Dabei deutet vieles darauf hin, dass beim Mord ein rechtsextremes Terrornetzwerk aktiv war, das weit in den staatlichen Sicherheitsapparat hineinreicht.

In seinem ersten Geständnis hatte Ernst sich als Einzeltäter bezeichnet. Angeblich hatte ihm der Szene-Anwalt Dirk Waldschmidt, der sich sofort nach seiner Verhaftung bei ihm meldete, geraten, wegen seiner am Tatort gefundenen DNA-Spur zu gestehen, aber seinen Freund, den Mitangeklagten Markus Hartmann, sowie einen Freund aus der faschistischen NPD nicht zu belasten. Er werde dafür im Gegenzug seine Familie „unterstützen“.

Sein späterer Verteidiger, der Pegida-nahe Frank Hannig, habe dann vorgeschlagen, das Geständnis zu widerrufen, „die Sache auf Null zu setzen“. Ernst hatte darauf in der zweiten Tatversion erklärt, der Tod Lübckes sei nicht beabsichtigt gewesen. Gemeinsam mit Hartmann habe er Lübcke auf seiner Terrasse aufgesucht. Der tödliche Schuss habe sich dann versehentlich aus der von Hartmann gehaltenen Waffe gelöst.

Hannig ist zwischenzeitlich abberufen worden. Ernst wird nun vom Kölner Anwalt Mustafa Kaplan vertreten und hat am letzten Mittwoch sein inzwischen drittes Geständnis abgeliefert. Danach hatten er und Hartmann beschlossen, Lübcke zu bedrohen, ihm eine „Abreibung“ zu verpassen, aber ihn nicht zu töten. Den tödlichen Kopfschuss habe er selbst abgegeben, nachdem die Auseinandersetzung mit dem Politiker eskaliert sei.

Schon am Freitag wurde klar, dass dies alles so nicht stimmen konnte. Am Montag gestand Ernst dann, dass er bereits 2016 gemeinsam mit Hartmann das Wohnhaus der Lübckes ausgespäht habe. Nach der AfD-Demo in Chemnitz 2018, auf der es zu Hetzjagden auf Flüchtlinge kam, hätten dann beide beschlossen, den CDU-Politiker auch körperlich anzugreifen. Die Entscheidung ihn zu töten sei im April 2019 gefallen.

Am zehnten Verhandlungstag wurde Ernst auch noch zu Hartmann befragt, der selbst jede Aussage verweigert. Hartmann wird aktuell nur Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Er soll Ernst den Kontakt zum Waffenhändler beschafft haben, bei dem er sich die Tatwaffe kaufte, und ihm „psychische Beihilfe“ zum Mord geleistet haben.

Die Wohnung Hartmanns sei voller Nazi-Devotionalien gewesen, berichtete Ernst im Prozess. Auf Nachfragen bestätigte er, dass Hartmann eine Original Zyklon-B-Dose auf seinem Schreibtisch gehabt habe. Mit Zyklon B waren in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern Millionen Menschen vergast worden.

Hartmann habe Berichte über den Holocaust bezweifelt. Er habe auch eine Schießscheibe mit dem Gesicht von Bundeskanzlerin Merkel in den gemeinsamen Schützenverein sowie zu einer Schießübung im Wald mitgebracht. Beide Männer seien öfters gemeinsam oder allein zu AfD-Stammtischen gegangen.

In der Vernehmung von Ernst kam auch heraus, dass er dem Rechtsradikalen Karl Heinz Hoffmann zustimmend geschrieben hatte. Dieser war in den 1970er Jahren Anführer der nach ihm benannten Wehrsportgruppe Hoffmann gewesen, in der auch Gundolf Köhler, der Attentäter des Oktoberfestanschlags, trainiert hatte. Köhlers Bombe hatte 1980 im bislang schwersten rechtsterroristischen Anschlag in der Bundesrepublik 13 Menschen getötet und über 200 zum Teil sehr schwer verletzt.

Die lange Vorbereitungszeit des Mordes an Lübcke und die engen Verbindungen von Ernst und Hartmann zur gewalttätigen Neonaziszene legen dringend den Verdacht nahe, dass es weitere Mitwisser oder Mittäter gab. Die beiden waren jahrzehntelang in der relativ überschaubaren, selten mehr als 50 Personen umfassenden Kasseler Neonazi-Szene aktiv, unter anderem in der Freien Kameradschaft Kassel. Beide trafen sich auch mit Mitgliedern der inzwischen verbotenen Gruppe Combat 18.

Hartmann hatte schon 2004 in einem Neonazi-Forum gepostet: „Werwolf muss man sein!“ Die Organisation „Werwolf“ war vom Reichsführer SS Heinrich Himmler gegen Ende des Zweiten Weltkriegs aufgebaut worden. Kleine Spezialkommandos sollten im Untergrund in den von Nazideutschland besetzten Gebieten hinter den feindlichen Linien Sabotageakte und Morde verüben. Viele rechte Terrorgruppen haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg auf die Werwolf-Ideologie der Nazis bezogen.

Die Kasseler Neonazi-Szene unterhielt nachweislich auch enge Kontakte zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Hartmann kommt ursprünglich aus Rudolstadt, der Gegend in Thüringen, aus der auch der NSU stammt. Die rechte Terror-Organisation hatte zwischen 2000 und 2007 neun Menschen aus rassistischen Gründen und eine Polizistin ermordet, darunter 2006 den jungen Halit Yozgat in Kassel.

Allein der hessische Verfassungsschutz führte um das Jahr 2006 in der Kasseler Neonaziszene mindestens sieben V-Personen. V-Mann-Führer war zu dieser Zeit der Beamte des hessischen Landesamts für Verfassungsschutzes, Andreas Temme. Temme war beim Mord an Halit Yozgat am Tatort und wurde anschließend ins von Walter Lübcke geleitete Regierungspräsidium versetzt.

Hartmann selbst steht im Verdacht, ein V-Mann zu sein, der früher womöglich von Temme geführt wurde. Laut der antifaschistischen Recherche-Website Exif antwortete Cornelia Zacharias von der Generalbundesanwaltschaft (GBA) auf einer Sitzung des Bundestagsinnenausschusses im Januar auf die Frage, ob Hartmann Informant einer Behörde gewesen sei, sie wisse es zwar, sei aber nicht befugt, darüber Auskunft zu geben. Auf die Frage, ob Stephan Ernst Spitzel gewesen sei, habe ein Vertreter der GBA dagegen ohne Umschweife erwidert, dass man dies seitens seiner Behörde ausschließen könne. „Dieses Statement blieb bei Markus Hartmann aus“, so Exif.

Am Freitag war in der Vernehmung von Ernst kurze Zeit die Rolle von zumindest einem weiteren möglichen Mitwisser zur Sprache gekommen. Ernsts Anwalt ließ darauf die Vernehmung unterbrechen, denn hätte Ernst zugegeben, dass es einen dritten Mitwisser gibt, hätte der 5. Strafsenat sich mit der Frage befassen müssen, ob die drei eine terroristische Vereinigung nach §129a Strafgesetzbuch gebildet haben.

Der 30-jährige hessische Neonazi Alexander S. war viele Jahre Mitglied der gewalttätigen Freien Kameradschaftsszene und NPD-Aktivist. Zuletzt habe er sich eher der AfD zugewandt, berichtet der Hessische Rundfunk.

Am Nachmittag des 1. Juni 2019, nur Stunden vor dem Mord an Lübcke, hatte Hartmann viereinhalb Minuten lang mit Alexander S. telefoniert. Nach Informationen des Hessischen Rundfunks hatte S. mit Hartmann auch das Schießen mit scharfen Waffen geübt. Einmal sei das Trio gemeinsam nach Erfurt auf eine Demonstration der AfD gefahren.

Kurz nach dem Mord an Lübcke löschten Ernst und Hartmann Chatverläufe mit S. aus der Threema-App, einem verschlüsselten Messengerdienst. Ernst erklärte vor Gericht, nachdem er sich mit seinem Anwalt beraten hatte, man habe sich nur übers Studium unterhalten. Das widerspricht jedoch seiner Aussage, sein erster Anwalt Waldschmidt habe ihm geraten, S. nicht zu belasten.

Gerade weil alles auf einen akribisch geplanten Mordanschlag und ein dahinterstehendes rechtsextremes Terrornetzwerk hinweist, das über Temme bis hinein in staatliche Stellen reicht, werden Hinweise darauf von den Ermittlungsbehörden, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel ausgeblendet und ignoriert.

Dabei hatte Ernst mehrmals erklärt, er habe in seinem ersten Mordgeständnis den „Psycho-Nazi“ gespielt, damit nicht der Verdacht entstehe, es gebe ein Netzwerk von Rechtsradikalen in Kassel, das Verbindung zum NSU habe.

Hartmann hatte laut Süddeutscher Zeitung bei seiner Verhaftung ganz erstaunt gefragt, warum er nicht wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung festgenommen werde, sondern „nur“ wegen Beihilfe zum Mord. Auch der Ermittlungsrichter sei da stutzig geworden, so die Zeitung.

Gegen ausländische und linke Gruppen sind staatliche Behörden und Gerichte sehr schnell mit dem Paragrafen zur Hand, der die „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ unter Strafe stellt (§ 129a StGB). Gegen rechte Gruppen wird selbst bei offensichtlichen Hinweisen eine terroristische Vereinigung verneint. Dies vor allem deshalb, weil Teile des staatlichen Sicherheitsapparates involviert sind, wenn nicht gar die Strippen ziehen – das war vom Oktoberfestanschlag über die Morde des NSU bis hin zum Lübcke-Mord der Fall.

Wohl aus diesem Grund sollen die Akten des hessischen Verfassungsschutzes, die über die Hintergründe des Lübcke-Mordes Aufklärung geben könnten, nach dem Willen der hessischen Landesregierung jahrzehntelang unter Verschluss bleiben. Der Rechtsextremismus-Experte Professor Hajo Funke, der bis zu seiner Emeritierung 2010 an der Freien Universität Berlin lehrte, schrieb bereits im letzten Jahr, dies sei „geradezu die Bestätigung dafür, dass hier Informationen bewusst verborgen“ wurden, „die womöglich den Mord an Walter Lübcke hätten verhindern können“.

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