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In dieser politischen Biografie wird das Leben Cliff Slaughters von 1928 bis 1963 behandelt. Die WSWS veröffentlicht sie im Laufe der nächsten zwei bis drei Wochen in vier Teilen. Der Zeitraum von 1963 bis zu Slaughters Tod wird in weiteren Teilen behandelt, die für einen späteren Zeitpunkt in diesem Jahr vorgesehen sind.
Einleitung
Cliff Slaughter starb am 3. Mai 2021 in Leeds (England) im Alter von 92 Jahren.
Von 1957 bis 1986 gehörte Slaughter der Führung der Socialist Labour League (SLL), der Workers Revolutionary Party (WRP) und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) an und arbeitete dort eng mit Gerry Healy und Michael Banda zusammen. Slaughter war der maßgebliche Autor einer Reihe historisch bedeutsamer Dokumente, die sich gegen die prinzipienlose Wiedervereinigung der amerikanischen Socialist Workers Party mit dem Internationalen Sekretariat der Pablisten 1963 richteten und in denen die programmatischen und theoretischen Grundlagen des orthodoxen Trotzkismus aufrechterhalten wurden. Er war viele Jahre lang Sekretär des IKVI.
Slaughters bleibender Beitrag zur Verteidigung des Trotzkismus in den 1960er Jahren steht in tragischem Gegensatz zu dem politischen Opportunismus und der Ablehnung des revolutionären Marxismus, die er später an den Tag legte. In den Jahren 1985–1986 – inmitten einer verheerenden Krise in der Workers Revolutionary Party, für die er gemeinsam mit Healy und Banda die Hauptverantwortung trug – tat Slaughter alles in seiner Macht Stehende, um die Mitglieder der britischen Sektion zu desorientieren, jede ernsthafte Erkundung der Ursachen für den Zusammenbruch der WRP zu verhindern und das Internationale Komitee zu diskreditieren.
Am 8. Februar 1986 schloss Slaughter, umgeben von einer Phalanx der Londoner Polizei und mit deren Unterstützung, WRP-Anhänger des IKVI von der Teilnahme am Parteitag aus und spaltete vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale.
Sein langes Leben gereichte ihm nicht zum Vorteil. Nach dem Bruch mit dem Internationalen Komitee, bei dem er immerhin erst 57 Jahre alt gewesen war, verbrachte er die verbleibenden 35 Jahre seines Lebens mit der Zurückweisung und Verurteilung sämtlicher Prinzipien, die er während seiner 30-jährigen Mitgliedschaft in der trotzkistischen Bewegung verteidigt hatte. In dem unaufrichtigen Versuch, jede Verantwortung für die Krise, die die WRP zerstörte, von sich zu weisen, schob Slaughter die ganze Schuld auf Healy (der ihm zufolge „keinen Widerspruch duldete“) und vor allem auf Lenin und Trotzki. Der tiefere Grund für den Zusammenbruch der WRP, behauptete Slaughter in den Jahrzehnten nach der Spaltung, liege in dem Irrglauben, dass der Sozialismus den Aufbau einer revolutionären marxistischen Partei in der Arbeiterklasse voraussetze. 1996 fasste Slaughter seine Abkehr vom Marxismus mit den Worten zusammen: „Es ist notwendig, restlos mit der gesamten Vorstellung zu brechen, eine Partei und ein Programm ‚für‘ die Arbeiterklasse zu schaffen.“ [1]
Mit diesem Satz machte Slaughter seinen völligen Bruch mit dem wesentlichen Grundsatz deutlich, für den er 30 Jahre zuvor im Kampf gegen den pablistischen Revisionismus eingetreten war: dass der Sieg des Sozialismus vom Kampf für sozialistisches Bewusstsein in der Arbeiterklasse abhängt, das nur durch den Aufbau marxistisch-trotzkistischer Parteien geschaffen werden kann.
Bei den Mitgliedern des Internationalen Komitees, die in den Jahren, in denen Cliff Slaughter den Trotzkismus verteidigte, mit ihm zusammengearbeitet und von ihm gelernt hatten, musste seine von unverhohlenem Betrug und Zynismus begleitete Abkehr von der marxistischen Theorie und Politik zwangsläufig Verachtung hervorrufen. Allerdings war seine Rolle 1985–1986 und in den darauffolgenden Jahren nicht völlig überraschend. Bereits in den zehn Jahren zuvor hatte sich der immer deutlichere Rückzug der WRP vom Trotzkismus in einer Verschlechterung der Qualität von Slaughters Arbeit niedergeschlagen. Derselbe Degenerationsprozess zeigte sich auch in der Entwicklung seiner engsten Genossen.
Gerry Healy, der seit den 1930er Jahren am trotzkistischen Programm der politischen Revolution gegen die stalinistische Bürokratie festgehalten hatte, beendete sein politisches Leben als Apologet von Michail Gorbatschow. Michael Banda, der sich in den 1940er Jahren der trotzkistischen Bewegung angeschlossen und sein ganzes Erwachsenenleben lang gegen die konterrevolutionäre Politik des Kremls gekämpft hatte, verleugnete plötzlich die Vierte Internationale und bekundete seine Bewunderung für Stalin. Obwohl ihre persönlichen Beziehungen unter erbitterten gegenseitigen Vorwürfen zusammenbrachen, gelangten Healy, Banda und Slaughter mehr oder weniger gleichzeitig zu politischen Positionen, die denen, die sie in den Jahren ihrer engen Zusammenarbeit vertreten hatten, diametral entgegengesetzt waren. Ihr gemeinsamer politischer Kurs wurde durch soziale und politische Prozesse bestimmt, die in der Entwicklung des Klassenkampfs wurzelten, wie er in Großbritannien und international in den entscheidenden 1970er und 1980er Jahren verlaufen war.
Angesichts des grundlegenden Charakters seines Bruchs mit dem Trotzkismus und der Art und Weise, wie er ihn vollzog, ist der Tod Slaughters kein Anlass für sentimentale Erinnerungen. Doch nicht nur die Missetaten eines Menschen überdauern seinen Tod. Im Rückblick auf sein Leben werde ich im Gegensatz zu Slaughter selbst nicht die ungemein positive Rolle außer Acht lassen, die er während der politisch und theoretisch produktivsten Zeit seines Lebens im Kampf für den Trotzkismus in Großbritannien und international gespielt hat.
Ich begegnete Cliff Slaughter erstmals im Juli 1971, also vor genau einem halben Jahrhundert, bei einem seiner Vorträge. Seine Reden und Schriften sowie die zahlreichen Diskussionen mit ihm im Rahmen der politischen Arbeit haben wesentlich zu meiner Ausbildung als Marxist beigetragen. Doch später machte sich Slaughter in erheblichem Maße mitschuldig an der zunehmenden theoretischen und politischen Desorientierung der Workers Revolutionary Party – sowohl durch das, was er tat, als auch durch das, was er unterließ. Wenn es in der WRP jemanden gab, der die Möglichkeit gehabt hätte, Healys Verfälschung der marxistischen Methode zur Rechtfertigung des politischen Opportunismus in den 1980er Jahren erfolgreich zu entlarven, dann war es Cliff Slaughter. Aber er entschied sich bewusst dagegen, und seine Rolle während und nach der Krise 1985–1986 führte zum Abbruch jedes politischen und persönlichen Kontakts zwischen uns. Ich war verpflichtet, seine politischen Aktivitäten und Schriften der schärfsten Kritik zu unterziehen, und es gibt nichts, was ich ändern, geschweige denn zurücknehmen würde. Aber die Ironie will es, dass das, was ich gegen Slaughter schrieb, zu einem nicht unerheblichen Teil von dem beeinflusst war, was ich in früheren Jahren von ihm gelernt hatte. Dieser Widerspruch blieb auch beim Verfassen der folgenden politischen Biografie von Cliff Slaughter bestehen.
David North
30. Juli 2021
Cliff Slaughters Hintergrund und frühe Jahre
Cliff Slaughters Vater, Frederick Arthur Slaughter, wurde 1907 in Oxfordshire im Süden Englands geboren. Noch als Teenager zog Fred in den Nordosten Englands, wo er in Durham Arbeit als Bergmann fand. Er erlebte den Generalstreik von 1926 mit, der vom Gewerkschaftsverband Trades Union Congress (TUC) verraten wurde, was verheerende Folgen für die Bergarbeiter und die Arbeiterklasse insgesamt hatte. In Durham lernte er Annie Elizabeth Stokeld (geboren 1903) kennen, die er im April 1928 heiratete. Das junge Paar zog bald nach Doncaster in Yorkshire, wo im Oktober ihr erstes Kind, Clifford, geboren wurde. Es folgten zwei Geschwister, Keith und Nancy. 1938 zogen Frederick Slaughter und seine Familie nach Leeds, wo Cliff Slaughter sein gesamtes Leben als Erwachsener verbringen sollte.
In einem Nachruf, der nach dem Tod von Frederick Slaughter am 14. November 1974 im Alter von 67 Jahren in der Workers Press veröffentlicht wurde, hieß es, die Erfahrungen seines Vaters „in den 1920er und 1930er Jahren“ hätten in dem Sohn „einen bitteren Hass auf den Kapitalismus und eine tiefe Überzeugung von der Notwendigkeit einer sozialen Revolution durch die Arbeiterklasse hinterlassen“. Der Workers Press zufolge erinnerte Fred „immer wieder an den Generalstreik von 1926 und stellte die Kampfkraft der Bergarbeiter, zu denen er damals gehörte, dem feigen Verrat der TUC-Führer gegenüber“. [2]
Fred Slaughter arbeitete in den 1930er Jahren zunächst als Vertreter und ging von Tür zu Tür, um Versicherungen zu verkaufen, fand aber schließlich eine Anstellung als Arbeiter in der Traktorenfabrik John Fowler in Leeds, wo er Convenor (Obmann) wurde. Während des Zweiten Weltkriegs – der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt – trat Fred Slaughter der stalinistischen Kommunistischen Partei (KP) bei. Auch Annie Elizabeth wurde KP-Mitglied, war aber weitaus weniger aktiv als ihr Mann. Nach dem Krieg war Fred Slaughter wieder als Vertreter tätig und verkaufte Enzyklopädien an Arbeiterfamilien.
Cliff Slaughter musste in seiner Kindheit große Entbehrungen hinnehmen. Seine spätere Frau, Barbara Slaughter (geborene Bennett), erinnert sich: „Im Alter von etwa 8 Jahren kam er eines Tages von der Schule nach Hause und fand seine Mutter im Wohnzimmer weinend auf einer Orangenkiste sitzend vor. Gerichtsvollzieher hatten wegen Mietrückständen fast das gesamte Mobiliar des Hauses beschlagnahmt. Das war eine Erfahrung, die er nie vergessen hat.“ [3]
Cliff besuchte die Leeds Modern High School for Boys. Aufgrund seiner hervorragenden Leistungen erhielt er als erster Schüler dieser Schule ein Stipendium für die Universität Cambridge. Unter dem Einfluss seines Vaters, zu dem er ein sehr enges Verhältnis hatte, begann Cliff Slaughter bereits in der High School mit der Lektüre der Werke Lenins und der marxistischen Klassiker. Schon 1947 war er in der Young Communist League (YCL) aktiv.
Nach Abschluss der High School und vor dem Studium entschied sich Slaughter, als Bergarbeiter zu arbeiten, um dem Wehrdienst zu entgehen. Er arbeitete in der Zeche Water Haigh Colliery in Woodlesford, einem kleinen Dorf außerhalb von Leeds. Slaughter stand eine Stunde früher auf, als es für die Frühschicht nötig gewesen wäre, um Zeit zu haben, Lenins Schriften zu studieren. Diese Erfahrung prägte Slaughter. Seine intensive Beschäftigung mit marxistischer Theorie wurde durch eine gründliche Vertrautheit mit der Lebenswirklichkeit und den realen Kämpfen der Arbeiterklasse und eine entsprechende Sensibilität ergänzt. Wie Barbara Slaughter feststellt: „Ich denke, er hatte ein sehr tiefes Verständnis für das Leben der Arbeiterklasse. Man konnte nicht zwei Jahre lang unter Tage arbeiten, auf den Knien in drei Fuß niedrigen Flözen Kohle schippen und ständig an Streiks um Löhne und bessere Arbeitsbedingungen teilnehmen, ohne viel über das Leben der Arbeiterklasse zu erfahren. Dies und sein Studium der Russischen Revolution und der Schriften Lenins überzeugten ihn von der Notwendigkeit, dass die Arbeiterklasse durch eine sozialistische Revolution die Macht übernehmen muss.“ [4]
Nach seiner Arbeit in der Zeche fand Slaughter für einige Monate eine Anstellung in der Maschinenbauindustrie in Leeds. Im Oktober 1949 nahm er sein Studium in Cambridge auf, wo er zunächst Geschichte als Hauptfach wählte und dann seinen Schwerpunkt auf Sozialanthropologie verlagerte. 1952 schloss Slaughter das Studium mit der bestmöglichen Note ab. Neben seinem Studium engagierte er sich in der sozialistischen Politik und war deshalb Provokationen rechtsgerichteter Studenten an der Universität ausgesetzt. Als er eines Tages in sein Zimmer zurückkam, stellte er fest, dass seine Kleidung sowie die eines jüdischen Freundes und Kommilitonen auf den Innenhof geworfen worden war.
Im Oktober 1950, während seines Studiums in Cambridge, heiratete Slaughter Barbara Bennett, die er einige Jahre zuvor kennengelernt hatte. Barbara, deren Eltern überzeugte Sozialisten waren, war 1944 während ihres Soziologiestudiums an der Universität Leeds der Kommunistischen Partei beigetreten. In den ersten beiden Ehejahren wohnte das Paar in Cambridge und war dort in der Kommunistischen Partei aktiv. Die beiden besuchten Vorträge prominenter KP-Intellektueller, darunter J. D. Bernal.
Nach Cliff Slaughters Studium in Cambridge zogen er und Barbara nach Leeds. Slaughter erhielt eine Stelle an der Universität Leeds. Zusammen mit seinen Kollegen Norman Dennis und Fernando Henriques forschte er über eine Bergbaugemeinde in Yorkshire. In diesem Rahmen arbeiteten Slaughter und Dennis mehrere Monate lang in einem örtlichen Kohlebergwerk.
Auf der Grundlage ihrer Forschungen verfassten Slaughter, Dennis und Henriques ein Buch mit dem Titel Coal Is Our Life, das an britischen Universitäten bis heute als Standardwerk der Soziologie gilt.
Barbara Slaughter erinnert sich, dass der junge Slaughter sich intensiv mit politischen und kulturellen Fragen auseinandersetzte. Neben seinen akademischen Forschungen und politischen Studien verfügte er auch über umfassende Kenntnisse der englischen und französischen Literatur. Durch ihn lernte Barbara die Romane von Stendhal, Flaubert und Zola kennen. Slaughter, der sich dem Kampf für den Sozialismus verschrieben hatte, zeigte in dieser Phase seines Lebens kein Interesse an persönlichem Erfolg im konventionellen Sinne.
Slaughter war zwar in der Kommunistischen Partei aktiv, fand aber die reformistische Orientierung, die in deren Programm „Der britische Weg zum Sozialismus“ von 1951 dargelegt wurde, kaum mit der marxistischen Staatstheorie vereinbar. Es wunderte ihn auch, dass die Mitglieder der Kommunistischen Partei alle Äußerungen Stalins als unwiderlegbar akzeptierten. Alles, was der sowjetische Diktator sagte oder schrieb, galt als Evangelium, auch wenn es ihm offensichtlich an Wissen und Kompetenz fehlte.
Die Umstände, die zu ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei führten, und ihre Erfahrungen in der stalinistischen Bewegung beschreibt Barbara Slaughter folgendermaßen:
Ich bin vor 63 Jahren in die Politik gegangen, als ich 1945 im Alter von 18 Jahren in die Kommunistische Partei eintrat. Damals ging gerade der Zweite Weltkrieg zu Ende. Nachdem ich als Kind die Leiden der Arbeiterklasse, darunter meiner eigenen Familie, während der 1930er Jahre und die schrecklichen Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs und dann des Zweiten Weltkriegs miterlebt hatte, war ich, wie Millionen andere auch, fest entschlossen, keine Rückkehr zu den Vorkriegsverhältnissen zuzulassen. Der Heroismus, mit dem die russische Arbeiterklasse im Krieg die Errungenschaften der Russischen Revolution verteidigte, hatte der Kommunistischen Partei enormes Ansehen verschafft, und wie Tausende andere trat ich der KP in der irrigen Annahme bei, sie sei eine revolutionäre Partei.
In den folgenden elf Jahren wurde ich völlig falsch unterwiesen. Ich hatte keine Ahnung von den Kämpfen der Linken Opposition und der Vierten Internationale. In der Tat wurden die Trotzkisten als eine Art Inkarnation des Bösen beschrieben, und es hieß, sie seien „schlimmer als die Faschisten“. Ich kann nicht behaupten, dass ich das wirklich in Frage gestellt hätte, aber ich brauchte nicht besonders lange, um zu erkennen, dass die KP alles andere als eine revolutionäre Partei war. Aber ich sah keine Alternative. [5]
Chruschtschows „Geheimrede“
Cliff und Barbara Slaughter mochten bereits Zweifel am politischen Kurs der britischen Kommunistischen Partei gehabt haben. Die Krise, die 1956 innerhalb der stalinistischen Weltbewegung ausbrach, veranlasste sie jedoch, mit dem Stalinismus zu brechen und sich dem Trotzkismus anzuschließen. Am 25. Februar 1956, fast genau drei Jahre nach Stalins Tod, hielt Nikita Chruschtschow, der neue sowjetische Parteichef und langjährige Gefolgsmann des verstorbenen Diktators, auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion eine vierstündige „Geheimrede“. Chruschtschow verlas vor den Delegierten das lange unterdrückte Testament, in dem Lenin die Absetzung Stalins vom Amt des Generalsekretärs gefordert hatte.
Chruschtschow erklärte den fassungslosen Delegierten, dass Stalin, der in der Sowjetunion lange Zeit als Halbgott verehrt worden war, in Wirklichkeit ein politischer Verbrecher und für die Ermordung Tausender bolschewistischer Führer und loyaler Kommunisten verantwortlich war. Er erklärte:
Stalin handelte nicht mit dem Mittel der Überzeugung, der Erklärung, der geduldigen Arbeit mit den Menschen, sondern durch das Aufzwingen seiner Konzeptionen, indem er die absolute Unterordnung unter seine Meinung forderte. Wer sich dem entgegenstellte oder versuchte; seinen eigenen Gesichtspunkt und die Richtigkeit seines Standpunktes zu begründen, war zum Ausschluss aus dem Leitungskollektiv und in der Folge zur moralischen und physischen Vernichtung verurteilt. So war es insbesondere im Zeitraum nach dem XVII. Parteitag [1934], als dem Despotismus Stalins viele ehrliche, der Sache des Kommunismus ergebene, hervorragende Parteifunktionäre und einfache Parteiarbeiter zum Opfer fielen …
Stalin führte den Begriff „Volksfeind“ ein ... er erlaubte die Anwendung schrecklichster Repressionen, wider alle Normen der revolutionären Gesetzlichkeit, gegen jeden, der in irgendetwas mit Stalin nicht übereinstimmte ... Als hauptsächlicher und im Grunde genommen einziger Schuldbeweis wurde entgegen allen Normen der heutigen Rechtslehre das „Geständnis“ der Verurteilten betrachtet. Wie spätere Untersuchungen gezeigt haben, wurden die „Geständnisse“ durch physischen Druck auf die Angeklagten erlangt. Das führte zu einer krassen Vergewaltigung der revolutionären Gesetzlichkeit, dazu, dass viele total Unschuldige, die in der Vergangenheit die Parteilinie verteidigt hatten, zu Opfern wurden …
Die Willkür einer einzelnen Person regte auch andere zur Willkür an und ermöglichte sie. Massenverhaftungen und Deportationen vieler tausend Menschen, Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil und ohne normale Untersuchung riefen einen Zustand der Unsicherheit und der Furcht, sogar der Verzweiflung hervor.
Das diente natürlich nicht dem Zusammenschluss der Reihen der Partei und aller Schichten des werktätigen Volkes, sondern zog im Gegenteil die Liquidierung, den Parteiausschluss ehrlicher Mitarbeiter, die aber Stalin unbequem waren, nach sich. [6]
Chruschtschow und seine Verbündeten im sowjetischen Politbüro versuchten, sich der Verantwortung für die Verbrechen zu entziehen, indem sie die gesamte Verantwortung auf Stalin schoben. Stalin habe einen „Personenkult“ geschaffen, dem die gesamte Partei auf mysteriöse Weise erlegen sei. Diese politische Schauergeschichte erklärte natürlich rein gar nichts. Sie sollte verhindern, dass die politischen Kämpfe der 1920er Jahre innerhalb der Kommunistischen Partei der Sowjetunion untersucht wurden, die in Stalins Machtübernahme mündeten. Soweit er auf den innerparteilichen Kampf Bezug nahm, betonte Chruschtschow, dass der Kampf gegen Trotzki richtig gewesen sei:
Es gilt festzustellen, dass die Partei einen ernsthaften Kampf gegen die Trotzkisten, die Rechtsabweichler, die bürgerlichen Nationalisten führte, dass sie alle Feinde des Leninismus ideologisch zerschlug. Dieser ideologische Kampf wurde erfolgreich geführt, in seinem Verlauf kräftigte und stählte sich die Partei noch mehr. Hier spielte Stalin eine positive Rolle. [7]
Stalinistische Parteien in der Krise
Der Wortlaut der „Geheimrede“ fand seinen Weg in die internationale Presse und wurde in unzählige Sprachen übersetzt. Rund um die Welt lösten Chruschtschows Enthüllungen Schockwellen in den kommunistischen Parteien aus. Die Führer aller großen kommunistischen Parteien – von denen viele ihre Positionen Stalin verdankten, die Moskauer Prozesse begeistert unterstützt und zahllose andere Verbrechen gerechtfertigt hatten – sahen sich plötzlich einer Flut von Fragen ihrer Mitglieder ausgesetzt. Überall auf der Welt wurden die Führer der Kommunistischen Parteien – die sich in ihren eigenen Ländern als kleine Stalins aufgespielt hatten – aufgefordert, Rechenschaft über ihre persönliche Verantwortung für das abzulegen, was der Kreml nun als „Verletzung der revolutionären Gesetzlichkeit“ bezeichnete. Wie lange hatten sie die Mitglieder ihrer eigenen nationalen Parteien bewusst in die Irre geführt?
Am meisten fürchteten die stalinistischen Führer allerdings die Fragen, die sich zwangsläufig aus der unwiderlegbaren Aufdeckung von Stalins Verbrechen ergaben: Hatte Trotzki recht gehabt? War es nicht notwendig, noch einmal den gesamten Verlauf des Kampfs zu untersuchen, der sich innerhalb der sowjetischen Kommunistischen Partei und der Dritten Internationale während Lenins letzter Krankheit 1923 und nach seinem Tod 1924 entfaltet hatte? War es nicht an der Zeit, Trotzkis Reden und Schriften zu veröffentlichen? Sollen Trotzki und Tausende seiner Anhänger, die Opfer von Stalins Terror wurden, nicht „rehabilitiert“ und als große Revolutionäre gewürdigt werden?
Keine dieser Fragen konnte von Chruschtschow oder einem anderen Führer der Kommunistischen Partei mit Ja beantwortet werden. Der politische Kampf, den Trotzki und die Linke Opposition in den 1920er und 1930er Jahren führten, hatte sich nie nur gegen Stalin als Person gerichtet. Trotzkis Kritik richtete sich gegen das gesamte bürokratische Regime, das Stalin personifizierte. Die stalinistische Herrschaft, so hatte Trotzki erklärt, rührte daher, dass die Bürokratie die Macht der Arbeiterklasse usurpiert hatte – auf der Grundlage der antimarxistischen Theorie des „Sozialismus in einem Land“. Die Verbrechen des stalinistischen Regimes, darunter sein bewusster und systematischer Verrat an der internationalen Arbeiterklasse, wurzelten in der Verteidigung der Privilegien einer Bürokratie, die als „Gendarm der Ungleichheit“ innerhalb der Sowjetunion fungierte. Trotzkis Aufruf zur Gründung der Vierten Internationale im Jahr 1933, nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland (für die die Politik des Kremls verantwortlich war), ergab sich aus seiner Erkenntnis, dass das stalinistische Regime nicht reformiert werden konnte, sondern in einer politischen Revolution von der Arbeiterklasse gestürzt werden musste.
Weder der Kreml noch die nationalen stalinistischen Parteien wollten eine Diskussion über Trotzkis Kritik zulassen, geschweige denn ihre Richtigkeit anerkennen. Maurice Thorez und Harry Pollitt, die Generalsekretäre der französischen und der britischen Kommunistischen Partei, hatten Chruschtschow dringend aufgefordert, die Opfer der Moskauer Prozesse nicht zu rehabilitieren. Die britische KP unter Pollitt hatte die Schauprozesse und Hinrichtungen gebilligt. Um die wachsende Unruhe innerhalb der stalinistischen Organisationen in aller Welt zu unterdrücken, verabschiedete das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion am 30. Juni 1956, kaum vier Monate nach Chruschtschows Geheimrede, eine Resolution, mit der jede weitere Diskussion über Stalins Verbrechen und vor allem über deren tiefere politische Ursachen unterbunden werden sollte.
Doch die durch Chruschtschows Rede ausgelöste Krise innerhalb der stalinistischen Organisationen wurde durch den Ausbruch der Proteste in Polen und Ungarn im Herbst 1956 massiv verschärft. Die selbstgefälligen Behauptungen des Kreml-Regimes, der Prozess der Entstalinisierung und Selbstreform sei abgeschlossen, wurden durch seine Entscheidung, Panzer nach Budapest zu schicken und den Aufstand der ungarischen Arbeiterklasse brutal niederzuschlagen, restlos zunichte gemacht.
Der Kreml stellte seine Intervention als Niederschlagung einer faschistischen Konterrevolution dar. Diese Lügen wurden durch die Berichte des Journalisten Peter Fryer, eines langjährigen Mitglieds der britischen Kommunistischen Partei, widerlegt. Fryer war als Korrespondent für die Parteizeitung Daily Worker nach Ungarn gereist. Da seine Berichte der Propaganda des Kremls widersprachen, wurden sie von der britischen KP zensiert. Als Fryer daraufhin seine Kündigung beim Daily Worker einreichte, reagierten die britischen Stalinisten mit einer bösartigen Hetzkampagne. In der Hoffnung, ihn zu isolieren, suspendierte die Kommunistische Partei zunächst Fryers Mitgliedschaft und schloss ihn dann aus. Doch diese bürokratische Maßnahme brachte die Organisation nur weiter in Misskredit. Innerhalb weniger Monate traten 7.000 Personen – etwa 20 Prozent der Mitglieder – aus der britischen KP aus.
Trotz seines Ausschlusses fand Fryers Ungarische Revolution, veröffentlicht im Dezember 1956, in den Reihen der britischen Kommunistischen Partei breiten Widerhall. Er schrieb von zwei Tragödien. Die erste bestand darin, dass „eine Volksrevolution – ein Massenaufstand gegen Tyrannei und unerträglich gewordene Armut – von der Armee des ersten sozialistischen Staats der Welt niedergeschlagen wurde“. [8]
Fryer wies die verlogenen Anschuldigungen des Kremls zurück:
Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass der Aufstand weder von Faschisten noch von Reaktionären organisiert oder gesteuert wurde, auch wenn die Reaktionäre unbestreitbar versuchten, die Kontrolle darüber zu erlangen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass die sowjetischen Truppen, die gegen die „Konterrevolution“ in die Schlacht geworfen wurden, in Wirklichkeit nicht gegen Faschisten oder Reaktionäre kämpften, sondern gegen die einfache Bevölkerung Ungarns: Arbeiter, Bauern, Studenten und Soldaten. Die Armee, die Ungarn 1944–1945 von der faschistischen Herrschaft Deutschlands befreite, die die kollaborierenden Großgrundbesitzer und Großkapitalisten verjagte und die Bodenreform und den Beginn des sozialistischen Aufbaus ermöglichte – diese Armee musste nun gegen die besten Söhne des ungarischen Volkes kämpfen. [9]
Die Invasion kostete 20.000 Ungarn und 3.500 Russen das Leben. Große Teile Budapests wurden zerstört, und Zehntausende wurden bei den Kämpfen verwundet.
Die zweite Tragödie waren die langfristigen politischen Folgen der Intervention. Die Sympathie für die Sowjetunion – ein Erbe der Befreiung Ungarns von der Nazi-Besatzung durch die Rote Armee – wurde ausgelöscht. An ihre Stelle traten Hass auf Russland und extreme Orientierungslosigkeit. Fryer schrieb:
Die meisten Ungarn wollen zwar weder den Kapitalismus noch die Großgrundbesitzer zurück, verabscheuen aber zu Recht das heutige Regime der Armut, der Tristesse und der Angst, das ihnen als Kommunismus präsentiert wird. Die Verantwortung dafür liegt ganz klar auf den Schultern der kommunistischen Führer, vor allem auf denen von Rákosi, Farkas und Gerö, die dem Volk das Paradies auf Erden versprachen und ihm dann einen Polizeistaat bescherten, der nicht weniger repressiv und verwerflich war als die faschistische Vorkriegsdiktatur von Admiral Horthy. Die Arbeiter wurden ausgebeutet, schikaniert und belogen. Die Bauern wurden ausgebeutet, schikaniert und belogen. Die Schriftsteller und Künstler wurden in starre ideologische Zwangsjacken gezwängt, schikaniert und belogen. Wer seine Meinung sagte, eine unangenehme Frage stellte, ja auch nur über politische Fragen in einer Sprache sprach, die nicht dem abgesicherten, vertrauten monolithischen Jargon entsprach, lief Gefahr, in die Fänge der allgegenwärtigen Geheimpolizei zu geraten. Der Zweck dieser hochbezahlten Organisation bestand angeblich darin, das Volk vor Versuchen zur Restauration des Kapitalismus zu schützen, doch in der Praxis schützte sie die Macht der Oligarchie. Zu diesem Zweck wandte sie die abscheulichsten Methoden an, darunter Zensur, Gedankenkontrolle, Inhaftierung, Folter und Mord. Die Tragödie bestand darin, dass ein solches Regime als sozialistische Gesellschaft, als „Volksdemokratie“, als erster Schritt auf dem Weg zum Kommunismus dargestellt wurde. [10]
Die weitere Tragödie, auf die Fryer aufmerksam machte, betraf die britischen Kommunisten, die zwar Ungarn besucht hatten,
aber nicht einmal sich selbst gegenüber eingestanden, was dort in Wirklichkeit geschah und dass wir mit Zähnen und Klauen die Tyrannei verteidigten.
Bevor uns der Zwanzigste Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die Augenbinde zum Teil abnahm, räumten wir ein, dass der Aufbau des Sozialismus von sogenannten „negativen Aspekten“ begleitet wurde. Wir waren zuversichtlich, dass diese „negativen Aspekte“ mit einer gesunden Kritik und Selbstkritik überwunden werden konnten. Nach dem Zwanzigsten Parteitag erlaubten wir uns, von „Fehlern“, „Missbrauch“, „Verstößen gegen die sozialistische Gesetzlichkeit“ und manchmal, sehr gewagt, von „Verbrechen“ zu sprechen. Aber wir waren nach wie vor Opfer unseres Verlangens, die Entstehung der strahlenden neuen Gesellschaft zu sehen, die wir zu unseren Lebzeiten so heiß ersehnten und die der Propaganda zufolge im Aufbau begriffen war. [11]
In diesen bewegten Monaten Ende 1956 lernte Peter Fryer Gerry Healy kennen, den Führer der trotzkistischen Bewegung in Großbritannien. Healy war 1937 aus der britischen Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden, weil er Fragen zu den Moskauer Prozessen gestellt hatte. Die trotzkistische Bewegung war als „The Club“ bekannt und arbeitete als Fraktion innerhalb der Labour Party. In einem Bericht über die Krise innerhalb der britischen KP heißt es, Fryer habe sich zu Healy hingezogen gefühlt „nicht nur, weil er in Bezug auf Stalin recht hatte, sondern auch, weil er über eine historische Theorie verfügte, die den Stalinismus erklärte“. [12] Healy sorgte dafür, dass Fryers Ungarische Tragödie als Broschüre erschien, damit sie unter den Mitgliedern der Kommunistischen Partei verbreitet werden konnte.
Das Eingreifen der kleinen britischen trotzkistischen Bewegung in die Krise der stalinistischen Partei war eine politische Leistung von historischer Bedeutung. Der wesentliche politische und auch theoretische Impuls für diese Intervention ging eindeutig von Gerry Healy aus. Seine entscheidende Rolle ergab sich nicht nur aus seiner Tatkraft, seiner unnachgiebigen Entschlossenheit und seinen herausragenden Fähigkeiten als Redner – Qualitäten, die selbst seine erbittertsten Feinde anerkennen mussten. Die bemerkenswerteste von Healys Führungsqualitäten in dieser entscheidenden Periode seines Lebens war seine Einsicht, dass die Grundlage für den Aufbau der Vierten Internationale als neuer revolutionärer sozialistischer Massenpartei der Arbeiterklasse in der Klärung der großen historischen Fragen bestand, die Trotzki im Kampf gegen den Stalinismus dargelegt hatte. Diese Klärung war nicht nur ein „Aspekt“ des Parteiaufbaus, dem man sich widmen sollte, wenn es zeitlich möglich war. Sie war, wie Healy immer wieder betonte, das Wesen des Aufbaus der revolutionären Partei, denn sie war die unverzichtbare Grundlage für die Ausbildung der revolutionären Kader und der Arbeiterklasse.
Außerdem war der Club trotz seiner geringen Größe und seiner äußerst begrenzten finanziellen Mittel durch den politischen Kampf, den er in den vorangegangenen drei Jahren innerhalb der Vierten Internationale geführt hatte, politisch auf die Krise innerhalb der stalinistischen Weltbewegung vorbereitet.
Die Vierte Internationale und der Kampf gegen den Pablismus
Im November 1953 waren unüberbrückbare politische und programmatische Differenzen in einer Spaltung der Vierten Internationale in zwei entgegengesetzte Fraktionen gegipfelt. Die eine Fraktion – angeführt von Michel Pablo, dem Sekretär des Internationalen Sekretariats der Vierten Internationale, und Ernest Mandel – war zu dem Schluss gelangt, dass die Analyse der konterrevolutionären Rolle der sowjetischen stalinistischen Bürokratie und der mit ihr verbundenen Parteien, die Trotzki in den Jahren 1933 bis 1938 entwickelt hatte, durch den Verlauf des Zweiten Weltkriegs und seine Folgen sowohl überholt als auch widerlegt worden sei. Der Sieg der Sowjetunion über Nazideutschland und die Errichtung von „Volksdemokratien“ in den „Pufferstaaten“ Osteuropas hätten gezeigt, dass der Stalinismus eine revolutionäre Rolle spiele, die Trotzki nicht vorausgesehen habe. Die „deformierten Arbeiterstaaten“ stellten, so Pablo und Mandel, einen alternativen Weg zum Sozialismus unter der Ägide der stalinistischen Parteien dar.
Diese revisionistische Perspektive führten Pablo und Mandel (der damals den Parteinamen „Germain“ verwendete) in einem Dokument aus, das 1951 auf dem Neunten Plenum des Internationalen Exekutivkomitees der Vierten Internationale verabschiedet wurde. Darin heißt es:
Die gesellschaftliche Wirklichkeit besteht für unsere Bewegung im Wesentlichen aus der kapitalistischen Herrschaft und der stalinistischen Welt. Ob es uns gefällt oder nicht, bilden diese beiden Elemente darüber hinaus im Großen und Ganzen die gesellschaftliche Realität, denn die überwältigende Mehrheit der antikapitalistischen Kräfte befindet sich zurzeit unter der Führung oder dem Einfluss der sowjetischen Bürokratie. [13]
Darüber hinaus werde der eskalierende Konflikt zwischen dem US-Imperialismus und der Sowjetunion in einen neuen Weltkrieg münden, der die Form einer stalinistisch geführten globalen Revolution annehmen und zur Schaffung von „deformierten Arbeiterstaaten“ führen werde, die Jahrhunderte lang Bestand haben würden. Angesichts des sich abzeichnenden katastrophalen Kriegs zwischen der „kapitalistischen Herrschaft“ und der „stalinistischen Welt“ sprach Pablo der Vierten Internationale jedes Anrecht auf eine unabhängige Existenz ab:
Wir werden nicht davon ablassen, unermüdlich zu wiederholen, dass die gesamte Taktik des Dritten Weltkongresses der Internationale in den Ländern verschiedener Kategorien heute von unserer grundsätzlichen Einschätzung bestimmt wird, dass sich die internationale Situation unumkehrbar innerhalb relativ kurzer Zeit in Richtung eines Weltkriegs entwickelt, der von einem bestimmten Charakter und einem bestimmten Kräfteverhältnis geprägt ist ...
Der Unterschied zwischen uns und allen anderen, einschließlich unserer Deserteure, besteht darin, dass wir diese Feststellung nicht passiv treffen, dass wir nicht in den Tiefen unserer Seelen von der Möglichkeit einer anderen, angenehmeren, einfacheren Entwicklung träumen. Da wir uns nicht von Illusionen einlullen lassen, versuchen wir, ab sofort aus dieser Position heraus und in der Praxis zu handeln. [14]
Soweit Trotzkisten in der globalen „Kriegsrevolution“ überhaupt eine Rolle zu spielen hatten, sollten sie den stalinistischen Organisationen als Berater dienen und sie ermutigen, einen revolutionären Kurs einzuschlagen, wie ihn die objektiven Ereignisse erforderten. Diese bescheidene politische Rolle konnten die Trotzkisten am besten erfüllen, indem sie ihre eigenen Organisationen auflösten und den stalinistischen Parteien beitraten.
Der politische Konflikt, den diese Perspektive hervorrief, wurde durch die Entwicklungen auf die Spitze getrieben, die in der Sowjetunion unmittelbar nach Stalins Tod am 5. März 1953 einsetzten. Die Maßnahmen, mit denen die neuen Kremlführer Stalins gottähnlichen Status abschwächen, die groteske antisemitische Kampagne in den letzten Lebensmonaten des Diktators beenden und das Ausmaß der staatlichen Repression verringern wollten, wurden von Pablo und Mandel als Zeichen einer fortschreitenden Selbstreform der sowjetischen Bürokratie begrüßt. Diese Wunschvorstellung wurde allerdings schnell zunichte gemacht, als im Juni 1953 die herrschende stalinistische Bürokratie unter der Führung von Walter Ulbricht den Arbeiteraufstand in Ost-Berlin brutal niederschlagen ließ.
Unterstützt von Pablo und Mandel entwickelten sich in den nationalen Sektionen der Vierten Internationale allenthalben liquidatorische Fraktionen. In der amerikanischen Socialist Workers Party (SWP) stellte die von Cochran und Clarke geführte pablistische Fraktion die Parole auf: „Junk the Old Trotskyism“ („Auf den Müll mit dem alten Trotzkismus“). In der britischen Sektion der Vierten Internationale forderte die pablistische Fraktion unter der Führung von John Lawrence, dass sich der Club in der Kommunistischen Partei auflösen sollte.
Die Revision von Trotzkis Analyse der Rolle des Stalinismus war ein wesentliches Element des pablistischen Angriffs auf das Programm der Vierten Internationale. Aber seine Ablehnung des Trotzkismus erstreckte sich darüber hinaus auf die Grundprinzipien der marxistischen Bewegung: die entscheidende Rolle der Führung und ihren Kampf für sozialistisches Bewusstsein in der Arbeiterklasse. Dies erklärte James P. Cannon nach dem Ausschluss der Cochran-Clarke-Fraktion am 3. November 1953 in einer Rede vor dem Nationalkomitee der SWP:
Das Problem der Führung ist das ungelöste Problem der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt. Das einzige Hindernis zwischen der Weltarbeiterklasse und dem Sozialismus ist das ungelöste Problem der Führung. Das ist die „Frage der Partei“. Das ist es, was das „Übergangsprogramm“ meint, wenn es erklärt, dass die Krise der Arbeiterbewegung in der Krise der Führung besteht. Das heißt, solange die Arbeiterklasse das Problem der Schaffung einer revolutionären Partei nicht löst, die der bewusste Ausdruck des historischen Prozesses ist und die Massen im Kampf führen kann, bleibt die Frage unentschieden. Es ist die wichtigste aller Fragen– die Frage der Partei.
Und wenn unser Bruch mit dem Pablismus – wie wir jetzt klar sehen – wenn er auf eine Frage hinausläuft und sich in einer Frage konzentriert, dann ist es diese: die Frage der Partei. Das scheint uns heute klar, denn wir haben die Entwicklung des Pablismus anhand seiner Taten verfolgt. Das Wesen des pablistischen Revisionismus besteht darin, dass der Bestandteil des Trotzkismus über Bord geworfen wird, der heute der wichtigste ist: die Auffassung, dass die Krise der Menschheit, als die Krise der Führung der Arbeiterbewegung, auf die Frage der Partei hinausläuft.
Der Pablismus will nicht nur den Trotzkismus vernichten, sondern jenen Bestandteil des Trotzkismus, den Trotzki von Lenin gelernt hat. Lenins größter Beitrag zu seiner ganzen Epoche war seine Idee und sein entschlossener Kampf, eine Partei der Vorhut aufzubauen, die fähig ist, die Arbeiter in der Revolution zu führen. Und er beschränkte seine Theorie nicht auf die Zeit seiner eigenen Tätigkeit. Er ging zurück bis 1871 und sagte, dass der entscheidende Faktor in der Niederlage der ersten proletarischen Revolution, der Pariser Kommune, das Fehlen einer Partei der revolutionären marxistischen Vorhut war, die der Massenbewegung ein bewusstes Programm und eine entschlossene Führung hätte geben können. Als Trotzki diesen Aspekt von Lenins Theorie 1917 akzeptierte, wurde er Leninist.
Dies fand Eingang in das „Übergangsprogramm“, dieses leninistische Verständnis der entscheidenden Rolle der revolutionären Partei. Und genau dies werfen die Pablisten zugunsten einer Auffassung über Bord, wonach die Ideen in die verräterischen stalinistischen oder reformistischen Bürokratien einsickern werden und irgendwie, „am Tage des Kometen“, die sozialistische Revolution ohne eine revolutionäre marxistische, d. h. eine leninistisch-trotzkistische Partei verwirklicht und zum Abschluss gebracht werden wird. Das ist das Wesen der Pablismus. Der Pablismus setzt Kult und Erleuchtung an die Stelle einer Partei und eines Programms. [15]
Am 16. November 1953 veröffentlichte Cannon einen Offenen Brief an die Trotzkisten in aller Welt, in dem er zu einem entschiedenen politischen und organisatorischen Bruch mit Pablo und dem Pablismus aufrief. In diesem Brief wies Cannon Pablos Revision der trotzkistischen Einschätzung des Stalinismus klar zurück – des Stalinismus, der
dadurch, dass er das Ansehen der Oktoberrevolution von 1917 in Russland ausnutzt, Arbeiter anzieht, nur um dann später ihr Vertrauen zu missbrauchen und sie entweder in die Arme der Sozialdemokratie, in Apathie oder zurück zu Illusionen über den Kapitalismus zu treiben. Den Preis für diese Verrätereien hat dann das arbeitende Volk zu zahlen, in Form einer Stärkung faschistischer oder monarchistischer Kräfte und durch neue Kriege, die der Kapitalismus hervorbringt und vorbereitet. Seit ihrer Gründung stellte sich die Vierte Internationale als eine ihrer Hauptaufgaben den Sturz des Stalinismus innerhalb und außerhalb der UdSSR. [16]
Eine Woche später, am 23. November 1953, wurde eine Resolution verabschiedet, in der die Bildung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale als Führungsorgan der orthodoxen Trotzkisten in der ganzen Welt bekannt gegeben wurde, in Opposition zu Pablos Internationalem Sekretariat. Einer der vier Unterzeichner dieser historischen Resolution war Gerry Healy.
Die britische trotzkistische Bewegung ging aus der Spaltung von 1953 politisch gestärkt hervor. Die Verteidigung der trotzkistischen Analyse des Stalinismus bewahrte sie davor, die Fraktionskämpfe innerhalb des Kremls auf impressionistische Weise zu deuten – im Gegensatz zu Pablo und Mandel, die unaufhörlich darüber spekulierten, ob innerhalb der Bürokratie die eine oder andere fortschrittliche Tendenz (Malenkow oder vielleicht Mikojan) zu erkennen wäre. Die britischen Trotzkisten hoben hervor, dass die stalinistische Bewegung als Ganzes in eine Krise geraten war, weil sie auf dem reaktionären und nicht lebensfähigen Programm des „Sozialismus in einem Land“ und seiner aktualisierten Variante, der „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus, beruhte.
Healy mobilisiert die britischen Trotzkisten
Aus diesem Grund waren die britischen Trotzkisten auf die Krise von 1956 vorbereitet. Später erinnerte sich Healy, wie er an einem kalten und nieseligen Samstagnachmittag im Spätwinter zum ersten Mal davon hörte, dass Chruschtschow in einer Rede vor dem 20. Parteitag Stalin verurteilt hätte. Als der vollständige Text schließlich in der britischen Presse veröffentlicht wurde, erkannte Healy sofort, dass die „Geheimrede“ einen entscheidenden Wendepunkt im Kampf der trotzkistischen Bewegung gegen den Stalinismus markierte. Endlich wurde der heldenhafte Kampf, den der „Alte“ von 1923 bis 1940 gegen die sowjetische Bürokratie und die „Stalinsche Schule der Fälschung“ geführt hatte, aus berufenem Munde, genauer gesagt aus dem Munde Nikita Chruschtschows, bestätigt.
Healy wusste, was zu tun war. Er forderte die Mitglieder seiner kleinen Organisation auf, eine Liste aller Mitglieder der stalinistischen Partei zusammenzustellen, mit denen sie Kontakt aufnehmen könnten. Es spiele keine Rolle, was sie in der Vergangenheit über den Trotzkismus gesagt hätten, erklärte Healy, und wies die Parteimitglieder an, diese Leute zu besuchen und mit ihnen über Chruschtschows Rede zu diskutieren. Healy selbst fuhr mit dem Zug und dem Auto durch ganz England, Wales und Schottland, um jedes Mitglied aufzusuchen, das er aus seiner Zeit in der Kommunistischen Partei kannte, einschließlich ehemaliger „Genossen“, die 1937 für seinen Ausschluss gestimmt hatten. Er nahm Kontakt zu „alten Bekannten“ aus seiner Zeit in der Young Communist League auf, von denen einige in hohe und einflussreiche Positionen im mächtigen Trades Union Congress (TUC) aufgestiegen waren.
Es war eine zeitraubende, schwierige und oft frustrierende Arbeit. Es gab viel Kopfschütteln, einige Tränen und sogar die eine oder andere Entschuldigung für vergangenes Unrecht. Healy suchte ein Mitglied der Kommunistischen Partei auf, mit dem er in den frühen 1930er Jahren eng zusammengearbeitet hatte. Dieser Mann hatte sich nach Healys Ausschluss geweigert, mit ihm zu sprechen, und ihn sogar öffentlich als „Mosley-Faschisten“ beschimpft, wenn er ihm bei öffentlichen Demonstrationen begegnete. Er hatte mittlerweile eine führende Position in der Transport and General Workers Union inne. Healy ging die Rede Chruschtschows Absatz für Absatz durch. Als er damit fertig war, antwortete der inzwischen mächtige Gewerkschaftsfunktionär: „Tja, Gerry, du hattest wohl all die Jahre recht.“ Er war jedoch nicht bereit, Trotzkis Rehabilitierung zu fordern, geschweige denn öffentlich mit den Stalinisten zu brechen. Seine Position in der Gewerkschaft hing von der Unterstützung durch die Führung der Kommunistischen Partei ab.
Trotz der zahlreichen Schwierigkeiten gelang es Healy und dem Club, noch vor dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn unter der wachsenden Zahl ernsthafter Dissidenten innerhalb der Kommunistischen Partei eine bedeutende Präsenz aufzubauen. Zu den KP-Intellektuellen, die Healy für den Trotzkismus gewann, gehörten auch Tom Kemp und Brian Pearce. Healy und der Club brachten die entscheidenden historischen Fragen auch innerhalb der Labour Party zur Sprache und gewannen so die Unterstützung derjenigen ihrer Mitglieder, die eine revolutionäre Alternative zum sozialdemokratischen Reformismus suchten.
Fortsetzung folgt
Anmerkungen:
[1] Cliff Slaughter, A New Party for Socialism – Why? How? By Whom? On What Programme? Answers to Some Burning Questions – And Some New Questions (Workers Revolutionary Party, London 1996, S. 68).
[2] Workers Press, 18. November 1974, S. 12.
[3] Barbara Slaughter, E-Mail an David North, 27. Juli 2021.
[4] Barbara Slaughter, E-Mail an David North, 26. Juli 2021.
[5] Barbara Slaughter, Beitrag zur Eröffnung des Gründungskongresses der Socialist Equality Party (US), Juli 2008.
[6] https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0014_ent&object=translation&st=&l=de
Der Satz „Wie spätere Untersuchungen gezeigt haben, wurden die ‚Geständnisse‘ durch physischen Druck auf die Angeklagten erlangt“ fehlt in der deutschen Fassung, ist aber in der englischen Übersetzung der Rede enthalten, die hier abgerufen werden kann: https://www.marxists.org/archive/khrushchev/1956/02/24.htm
[7] Ebd.
[8] https://www.marxists.org/archive/fryer/1956/dec/introduction.htm
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Dieses Zitat stammt aus einer Rezension von The Death of Uncle Joe von Alison Macleod, veröffentlicht in der Zeitschrift Revolutionary History, Jg. 7, Nr. 2. Macleod, die von 1944 bis zu ihrem Rückzug 1957 für den Daily Worker schrieb, behielt dem Trotzkismus und Gerry Healy gegenüber eine erbitterte Feindschaft bei. Umso bedeutender ist, dass sie den Einfluss von Healy auf Fryer anerkennt, so sehr sie ihn bedauert. Auch der Rezensent war ein Gegner Healys und bezeichnete ihn als „Fryers Mephistopheles“. https://www.marxists.org/history/etol/revhist/backiss/vol7/no2/heisler.html
[13] Zitiert in: David North, Das Erbe, das wir verteidigen, Kapitel 15, „Der Charakter des pablistischen Opportunismus“ (https://www.mehring-verlag.de/library/north-erbe-das-wir-verteidigen/17.html)
[14] „For a Decisive Turn in France“, in: International Information Bulletin, November 1952, S. 5.
[15] Zitiert in: David North, Das Erbe, das wir verteidigen, Kapitel 17, „Die Spaltung der Vierten Internationale“ (https://www.mehring-verlag.de/library/north-erbe-das-wir-verteidigen/19.html)
[16] Zitiert in: David North, Das Erbe, das wir verteidigen, Kapitel 18, „James P. Cannons ‚Offener Brief‘“ (https://www.mehring-verlag.de/library/north-erbe-das-wir-verteidigen/20.html), auf Englisch dokumentiert in: Cliff Slaughter (Hrsg.), Trotskyism Versus Revisionism: A Documentary History, London 1974, Bd. 1, The Fight Against Pabloism in the Fourth International, S. 298–301.