Es gibt keinen anderen Sozialisten, dessen Name so eng und untrennbar mit dem Kampf gegen Krieg und Militarismus verbunden ist, wie der Karl Liebknechts. Der Mut und die Entschlossenheit, mit der er zu Beginn des Ersten Weltkriegs gegen die eigene Partei rebellierte, im Reichstag als einziger SPD-Abgeordneter gegen die Kriegskredite stimmte und trotz Verfolgung und Unterdrückung gegen den Krieg agitierte, brachten ihm die Achtung und Unterstützung von Millionen Arbeitern ein.
In der Novemberrevolution 1918 führte er gemeinsam mit Rosa Luxemburg den Kampf gegen den Verrat der SPD, die alles unternahm, um die massenhaft entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte zu entmachten und so viel wie möglich vom alten Regime zu retten. Am 9. November rief er vor einer Massenkundgebung die „Freie Sozialistische Republik Deutschland“ aus, Ende Dezember gehörte er zu den Gründern der Kommunistischen Partei und Anfang Januar zu den Führern des Spartakusaufstands.
Dafür bezahlte er mit seinem Leben. Am 15. Januar 1919 wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von der reaktionären Soldateska, die die sozialdemokratische Regierung von Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann in die Hauptstadt geholt hatte, um die Revolution im Blut zu ersticken, mit Einverständnis von Reichswehrminister Gustav Noske ermordet.
Patenkind von Marx und Engels
Der Sozialismus war Karl Liebknecht gewissermaßen in die Wiege gelegt. Er wurde am 13. August 1871 in Leipzig als zweiter von fünf Söhnen Wilhelm Liebknechts geboren, des neben August Bebel wichtigsten Gründers und Führers der deutschen Sozialdemokratie. Die Taufe erfolgte in der Leipziger Thomaskirche, in der Johann Sebastian Bach einst als Kantor gewirkt und seine Meisterwerke aufgeführt hatte. Taufpaten waren – zwar nicht persönlich anwesend, aber durch schriftliches Einverständnis – Karl Marx und Friedrich Engels.
Einige Jahre seiner Kindheit verbrachte Karl Liebknecht unter einem Dach mit August Bebel, der, aufgrund der Sozialistengesetze aus der Stadt verbannt, gemeinsam mit seinem Vater ein Haus in einem Leipziger Vorort bewohnte. Der SPD trat Karl Liebknecht erst 1900, im Alter von 29 Jahren, bei. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass er einen Beruf erlerne, bevor er sich politisch engagiere. Er studierte Jura in Leipzig und Berlin, promovierte 1897 in Würzburg mit magna cum laude und wurde Rechtsanwalt.
Seine Anwalts- und seine politische Tätigkeit verschmolzen bald miteinander. In einem Land, in dem Sozialisten auch nach der Aufhebung der Sozialistengesetze stets mit einem halben Fuß im Gefängnis standen, wurde der Gerichtssaal zur Agitationsbühne. Liebknecht legte schon hier jenen Mut und jene Unerschrockenheit an den Tag, die seine Tätigkeit während des Kriegs und der Novemberrevolution auszeichnen sollten.
Internationale Bekanntheit erlangte er 1904 durch den Königsberger Geheimbundprozess. Er verteidigte neun deutsche Sozialdemokraten, denen die Staatsanwaltschaft den Schmuggel aufrührerischer Schriften nach Russland, „Geheimbündelei“ und Beleidigung des russischen Zaren vorwarf. Zu den Angeklagten gehörte auch der spätere preußische Ministerpräsident Otto Braun, der verhaftet und fünf Monate lang in Untersuchungshaft gesteckt wurde.
Liebknecht und der Reichstagsabgeordnete Hugo Haase übernahmen die Verteidigung vor Gericht; Haase und August Bebel stellten parallel dazu im Reichstag Reichskanzler Bernhard von Bülow zur Rede. So wurde der Prozess, der mit drei Freisprüchen und sechs mehrmonatigen Haftstrafen endete, zu einer vernichtenden Entlarvung des zaristischen Despotismus und der Zusammenarbeit der preußischen Behörden mit den Schergen der russischen Geheimpolizei Ochrana.
Liebknechts Schlussplädoyer war keine Verteidigungs-, sondern eine Anklagerede. Er sagte:
Der Herr Staatsanwalt fragt: Was kann es Schandbareres geben als die vor uns liegenden Schriften. Ich kenne etwas Schandbareres: Das sind die russischen Zustände, auf die sich diese Schriften beziehen. …
Wenn wir die russischen Zustände betrachten, die absolute Rechtlosigkeit des Volkes, die Korruption und blutige Brutalität der Bürokratie, das furchtbare, jeder Zügellosigkeit freien Lauf lassende Strafensystem, das „Prozessverfahren“, die Auspeitschungen, die Hinmetzeleien von Bauern, Juden und Arbeitern, so sehen wir, dass über der neueren russischen Geschichte zwei Worte stehen: Sibirien und Schlüsselburg, die beiden Embleme der russischen Herrlichkeit.
[Die Festung Schlüsselburg diente als Gefängnis, Sibirien als Verbannungsort für politische Gefangene; PS]
Karl Liebknecht unterhielt Zeit seines Lebens enge Beziehungen zum revolutionären Flügel der russischen Sozialdemokratie, dem er wesentlich näherstand, als der behäbigen und zunehmend konservativen Führung der SPD. Auch seine zweite Frau, die Kunsthistorikerin Sophie Ryss, war geborene Russin. Sie wurde zur engsten Freundin Rosa Luxemburgs.
Leo Trotzki äußerte sich dazu in der Gedenkrede, die er drei Tage nach Liebknechts Ermordung auf einer Sitzung des Petrograder Sowjets hielt:
Liebknecht ist für uns nicht der deutsche Führer, Rosa Luxemburg ist für uns nicht die polnische Sozialistin, die sich an die Spitze der deutschen Arbeiter stellte, sie beide sind die unsrigen, sind uns verwandt, mit ihnen verknüpfen uns unlösbare geistige Bande. …
Die Wohnung Liebknechts war das Stabsquartier aller besten Emigranten in Berlin, in Deutschland; wenn im deutschen Parlament, in der deutschen Presse die Stimme des Protests gegen jene Dienste erhoben werden sollte, welche die deutschen Imperialisten der russischen Reaktion erwiesen, wandten wir uns an Karl Liebknecht, und er pochte an alle Türen, an alle Schädel, darunter auch an die Schädel Scheidemanns und Eberts, um sie zu zwingen, auf die Verbrechen des Imperialismus zu reagieren.
Agitationsreise durch die USA
Sein unverbrüchlicher Internationalismus war – neben dem Antimilitarismus und der Überzeugung, dass es vor allem die Jugend für den Sozialismus zu gewinnen gelte – der wichtigste politische Charakterzug Liebknechts. Obwohl er durch zwei Abgeordnetenmandate – ab 1908 im Preußischen Abgeordnetenhaus und ab 1912 im Reichstag – sowie seine Anwaltstätigkeit stark ausgelastet war, engagierte er sich in der Zweiten Internationale und der Sozialistischen Jugendinternationale, zu deren Gründern er gehörte. 1907 wurde er zum Vorsitzenden ihres Verbindungsbüros gewählt.
1910 unternahm Liebknecht auf Einladung der Sozialistischen Partei Amerikas vor den Kongresswahlen eine Agitationsreise durch die USA. Innerhalb von drei Wochen sprach er auf insgesamt 25 Veranstaltungen in den Industriezentren der Oststaaten – von New York über Philadelphia und Pittsburgh bis nach Detroit, Chicago und St. Paul.
Die New Yorker Volks-Zeitung berichtete über den begeisterten Empfang, den ihm 4000 New Yorker Arbeiter bei der Auftaktveranstaltung im Saal vom Harlem River Park bereiteten:
… dass nicht müßige Neugier sie hingeführt, bewies der Enthusiasmus, der die ganze lebensprühende, von Kampfesfeuer und revolutionärem Klassenbewusstsein durchleuchtete Rede unseres deutschen Genossen begleitete, zeigte die herzliche, stürmische Zustimmung, der immer wieder ausbrechende Applaus, der die unzähligen Pointen der glänzenden, mehr als einstündigen Ansprache Dr. Karl Liebknechts unterstrich und bejubelte.
Liebknecht habe sein Publikum angenehm überrascht, weil er nicht, wie erwartet, „eine detaillierte Schilderung deutscher Parteiverhältnisse“ gegeben habe, sondern eine „vortreffliche Analyse des modernen Gesellschaftszustandes, eine unübertreffliche Charakterisierung des inneren Wesens der internationalen Sozialdemokratie und zugleich eine überaus geschickte Vergleichung der europäischen und amerikanischen Arbeiterverhältnisse und -bewegung“.
Amerika sei nicht nur Zufluchtsort für Vertriebene und Verfolgte aus Europa und gelte als „das gelobte Land Kanaan, in dem Milch und Honig fließe“, es sei „zu gleicher Zeit das Land des Hochkapitalismus, des Hexensabbats des Hochkapitals“, fasst die Volks-Zeitung Liebknechts Kernaussage zusammen.
Die kapitalistische Entwicklung, fuhr Liebknecht fort, habe die Weltwirtschaft geschaffen und damit aus der ganzen Kulturwelt nur noch ein Land des Kapitals. Aber wie das Kapital international entstanden sei, so wirke es auch international, so erzeuge es unwillkürlich als Gegenwirkung das internationale Proletariat. … Das Proletariat müsse einig, müsse international organisiert sein, damit es der Macht der Kapitalisten begegnen könne. Diese stünden sich auf dem Weltmarkte als Konkurrenten, als reißende Wölfe gegenüber, wenn es jedoch gegen die organisierte Arbeiterschaft gehe, so sei die kapitalistische Klasse der ganzen Welt ein „einig Volk von Brüdern“. (Beifall.)
Der Sozialismus sei heute keine Utopie, kein Traum mehr … Sein Grundgedanke sei der Klassenkampf, sei die Erkenntnis, dass der Kampf der Klassen das Zentrum aller Bewegungen der modernen Zeit sei. … Der Arbeiter als einzelner sei ein Sandkorn, das vom Flugsand hin und her geworfen werden kann, jedoch nur so lange, wie es nicht durch Mörtel verbunden, zum Stein, zu Zement verbunden sei. Der Zement der Arbeiterklasse heiße Solidarität. Neunzig Prozent Arbeiterschaft könnten gegen die zehn Prozent Kapitalisten, wenn verbunden, alles ausrichten.
„Militarismus und Antimilitarismus“
1907 veröffentlichte Liebknecht sein bedeutendstes Buch, „Militarismus und Antimilitarismus“. Beruhend auf einem Vortrag, den er im Jahr zuvor auf der der 1. Generalversammlung des Verbandes junger Arbeiter Deutschlands in Mannheim gehalten hatte, sollte es in erster Linie der sozialistischen Erziehung der Jugend dienen.
Das Buch wurde sofort verboten, Liebknecht wegen Hochverrats angeklagt und zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. Der Prozess, in dem er sich selbst verteidigte, verschaffte ihm große Popularität unter Berliner Arbeitern, die Spalier standen, als er die Haftstrafe antrat.
Liebknecht begreift den Militarismus nicht nur als Instrument der äußeren Aggression, sondern auch der inneren Unterdrückung:
Der Militarismus ist aber nicht nur Wehr und Waffe gegen den äußeren Feind, seiner harrt eine zweite Aufgabe, die mit der schärferen Zuspitzung der Klassengegensätze und mit dem Anwachsen des proletarischen Klassenbewusstseins immer näher in den Vordergrund rückt, die äußere Form des Militarismus und seinen inneren Charakter mehr und mehr bestimmend: die Aufgabe des Schutzes der herrschenden Gesellschaftsordnung, einer Stütze des Kapitalismus und aller Reaktion gegenüber dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse.
Er gibt einen Überblick über die historische Entstehung des Militarismus, seine Ausprägung in verschiedenen kapitalistischen Ländern und den Kampf der jeweiligen sozialdemokratischen Parteien dagegen. Schließlich grenzt er den proletarischen Antimilitarismus der Sozialdemokratie scharf vom kleinbürgerlichen Antimilitarismus der Anarchisten ab.
Das Endziel ist für den anarchistischen wie für den sozialdemokratischen Antimilitarismus … das gleiche: Beseitigung des Militarismus, und zwar des Militarismus nach außen wie des Militarismus nach innen. Indessen betrachtet die Sozialdemokratie, entsprechend ihrer Auffassung vom Wesen des Militarismus, die völlige Beseitigung des Militarismus allein für unmöglich: Nur mit dem Kapitalismus – der letzten Klassengesellschaftsordnung – zugleich kann der Militarismus fallen.
Der Anarchismus arbeite
… in erster Linie mit ethischem Enthusiasmus, mit dem Sporn der Moral, mit Argumenten der Humanität, der Gerechtigkeit, kurzum mit allerhand Impulsen auf den Willen, die den Klassenkampfcharakter des Antimilitarismus verkennen und ihn zu einem abstrakten Ausfluss eines allgemein gültigen kategorischen Imperativs zu stempeln suchen. Er wendet sich daher folgerichtig vielfach nicht nur an die Mannschaften, sondern auch an die Offiziere. …
Die sozialdemokratische antimilitaristische Propaganda hingegen ist Klassenkampfpropaganda und wendet sich daher grundsätzlich und ausschließlich an diejenigen Klassen, die im Klassenkampf notwendig Feinde des Militarismus sind… Sie klärt auf, um zu gewinnen, aber sie klärt nicht auf über kategorische Imperative, humanitäre Gesichtspunkte, ethische Postulate von Freiheit und Gerechtigkeit, sondern über den Klassenkampf, die Interessen des Proletariats in dem Klassenkampf, die Rolle des Militarismus im Klassenkampf und die Rolle, die das Proletariat im Klassenkampf spielt und zu spielen hat. …
Allmähliche organische Zersetzung und Zermürbung des militaristischen Geistes, das ist das Kampfmittel der Sozialdemokratie gegen den Militarismus.
Besonderes Gewicht legt Liebknecht dabei auf die antimilitaristische Agitation unter der Jugend. Im Deutschen Reich bestand damals allgemeine Wehrpflicht, die aus der Arbeiterklasse und der Bauernschaft stammenden Soldaten wurden von den größtenteils adligen Offizieren übel schikaniert. Der letzte Satz des Buches lautet:
Die proletarische Jugend gehört der Sozialdemokratie, dem sozialdemokratischen Antimilitarismus. Sie wird und muss, wenn alles seine Schuldigkeit tut, gewonnen werden. Wer die Jugend hat, der hat die Armee.
„Militarismus und Antimilitarismus“ brachte Liebknecht nicht nur die Verfolgung durch den preußischen Staat ein, sondern entfremdete ihn auch von der Führung der SPD, die seine offene Herausforderung des Militarismus für Wahnsinn hielt. Grigori Sinowjew beschrieb dies in seiner Gedenkrede für Liebknecht, die er auf derselben Sitzung des Petrograder Sowjets wie Trotzki hielt.
Liebknecht gehört zu den wenigen kühnen Männern in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie, die vor zehn Jahren, wie man sich damals ausdrückte – „antimilitaristische“ Propaganda, d.h. revolutionäre Propaganda unter den Soldaten forderten.
Man muss sich, Genossen, in die damalige Atmosphäre der geschniegelten und gebügelten Sozialdemokratie und der II. Internationale zurückversetzten, wo die Forderung Liebknechts für Wahnsinn galt. Bebel selbst, der Liebknecht seit der Kindheit kannte und ihn wie einen Sohn liebte, fiel in scharfen Ausdrücken über ihn her für diesen seiner Meinung nach „abenteuerlichen“ Vorschlag. Warum nicht gar zu den Soldaten gehen und Sozialismus predigen! Die deutsche Sozialdemokratie fand, dass nur ein Abenteurer das in Vorschlag bringen konnte! Man fürchtete, dass die Sozialdemokratie ihre Legalität einbüßt, dass die Bourgeoisie und die herrschenden Klassen finden könnten, die deutsche Sozialdemokratie hätte aufgehört eine Regierungspartei zu sein!
Kriegsgegner
Liebknecht kannte also den konservativen und opportunistischen Charakter der SPD-Führung, als am 28. Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach. Trotzdem traf es ihn als schwerer Schock, als sich die Mehrheit der SPD hinter den deutschen Imperialismus stellte und am 4. August im Reichstag für die Kriegskredite stimmte. Die Zweite Internationale und die SPD hatten in den Jahren davor zahlreiche Resolutionen verabschiedet, in denen sie sich feierlich gegen den Krieg aussprachen. Nun schickten sie ihre Mitglieder in die Schützengräben, um sich gegenseitig abzuschlachten.
Liebknecht fügte sich am 4. August der Fraktionsdisziplin und stimmte für die Kriegskredite, die der Parteivorsitzende Hugo Haase (Bebel war 1913 gestorben) mit den berüchtigten Worten begründete: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.“ Doch an seiner vehementen Opposition gegen den Krieg bestand kein Zweifel. Als am 2. Dezember die Kriegskredite erneut zur Abstimmung standen, votierte er als einziger Abgeordneter dagegen.
Es begann seine enge Zusammenarbeit mit Rosa Luxemburg, die bereits am 5. August 1914 die Gruppe Internationale gründete, aus der später der Spartakusbund und die Kommunistische Partei hervorgingen. Im Sommer und Herbst reisten die beiden durchs ganze Land, um andere SPD-Abgeordnete für die Ablehnung des Kriegs zu gewinnen. Liebknecht besuchte auch Belgien, wo deutsche Truppen Massenrepressalien gegen die Zivilbevölkerung durchgeführt und Kulturschätze von unschätzbarem Wert zerstört hatten, und prangerte sie gemeinsam mit belgischen Sozialisten an. Das brachte ihm nicht nur von Regierung und Reichswehr, sondern auch von Mitgliedern der eigenen Partei den Vorwurf des „Vaterlandsverrats“ ein.
Luxemburg, die als Frau weder wählen noch für den Reichstag kandidieren durfte, war der theoretische und politische Kopf der sozialistischen Opposition gegen den Krieg, die wichtigsten Artikel und Broschüren stammten aus ihrer Feder. Liebknecht, der als Abgeordneter eine gewisse, allerdings äußerst beschränkte Immunität besaß, war ihr öffentliches Gesicht und ihr treibender Motor.
Leo Trotzki, der Liebknecht persönlich kannte, schrieb über ihn in seiner Autobiografie „Mein Leben“:
Ein gebildeter Marxist, war Liebknecht dennoch kein Theoretiker. Er war ein Mann der Tat. Eine impulsive, leidenschaftliche, sichaufopfernde Natur, besaß er politische Intuition und einen Instinkt für die Massen und für die Umstände und war von unvergleichlichem Mut zur Initiative erfüllt. Das war ein Revolutionär. Deshalb blieb er stets ein halber Fremdling im Hause der deutschen Sozialdemokratie mit ihrer bürokratischen Gemächlichkeit und der steten Bereitschaft zum Rückzug. Wieviele Philister und Banausen blickten vor meinen Augen auf Liebknecht ironisch von oben herab!
In der Arbeiterklasse genoss Liebknecht enormen Respekt. Auch wenn viele Arbeiter – nicht zuletzt wegen der massiven Repressionsmaßnahmen – lange zögerten, sich dem Spartakusbund anzuschließen, verfolgten sie jede seiner Taten und Äußerungen genau. Karl Retzlaw, der als junger Metallarbeiter in einem großen Berliner Metallbetrieb arbeitete und sich dem Spartakusbund (und später der trotzkistischen Bewegung) anschloss, beschreibt dies in seinen Erinnerungen:
In den ersten Monaten, als die deutschen Siege an den Kriegsfronten einander folgten, wollte kaum jemand ein kritisches Wort hören. Kriegsberichte füllten die Presse, von der Tätigkeit Liebknechts meldeten sie nichts. An meiner Arbeitsstelle unterhielten sich die Kollegen täglich hinter vorgehaltener Hand darüber, was Liebknecht wohl tun würde. Als ob es selbstverständlich wäre, erwartete man von ihm eine Aktivität gegen den Krieg, ohne sich mit ihm zu solidarisieren.
Die Regierung und seine politischen Gegner taten alles, um Liebknecht zum Schweigen zu bringen. Im Reichstag wurde ihm selten das Wort erteilt, und wenn er sprach, erschien sein Beitrag nicht im Protokoll. Im Februar 1915 wurde er zum Wehrdienst einberufen. Damit unterstand er den Militärgesetzen, die jegliche politische Betätigung außerhalb des Reichstags verboten.
Liebknecht nutzte dennoch jede Gelegenheit, um gegen den Krieg zu agitieren. Am 1. Mai 1916 rief die Spartakusgruppe in Berlin zu einer Antikriegsdemonstration auf dem Potsdamer Platz auf. Der Aufruf, von Liebknecht verfasst, zeigt seine ganze Kraft als Agitator. Er geißelt in brennenden Worten die Kriegsverantwortlichen und schließt mit den Sätzen:
Am 1. Mai reichen wir über alle Grenzsperren und Schlachtfelder hinweg die Bruderhand dem Volke in Frankreich, in Belgien, in Russland, in England, in Serbien, in der ganzen Welt! Am 1. Mai rufen wir vieltausendstimmig: Fort mit dem ruchlosen Verbrechen des Völkermordes! Nieder mit seinen verantwortlichen Machern, Hetzern und Nutznießern! Unsere Feinde sind nicht das französische, russische oder englische Volk, das sind deutsche Junker, deutsche Kapitalisten und ihr geschäftsführender Ausschuss: die deutsche Regierung! Auf zum Kampfe gegen diese Todfeinde jeglicher Freiheit, zum Kampfe um alles, was das Wohl und die Zukunft der Arbeitersache, der Menschheit und der Kultur bedeutet!
Seine leidenschaftliche Kämpfernatur ließ Liebknecht manchmal die Vorsicht vergessen, die im Interesse einer längerfristigen Arbeit angebracht gewesen wäre. Er trat auf der Demonstration persönlich als Redner auf und wurde nach den Worten „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“ von der Polizei umzingelt, verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt.
Die Demonstration zeigte große Wirkung. Am ersten Prozesstag gegen Liebknecht traten in Berlin, organisiert von den Revolutionären Obleuten, 50.000 Arbeiter in den Streik. Es war der erste Massenstreik gegen den Krieg. Doch die Arbeiterklasse war noch nicht stark genug, dem kaiserlichen Regime ihren Willen aufzuzwingen, geschweige denn, es zu stürzen. Liebknecht saß für den Rest des Krieges hinter Gefängnismauern und verlor seine beiden Parlamentsmandate. Die beiden wichtigsten Führer des Spartakusbundes – Rosa Luxemburg befand sich während fast des gesamten Krieges in Haft – waren dadurch in ihrer Wirkung stark eingeschränkt.
Novemberrevolution
Nach Liebknechts Verhaftung zog sich der Weltkrieg weitere zweieinhalb Jahre hin. Junge Männer wurden an der Front in den sinnlosen Tod geschickt, zuhause hungerte die Bevölkerung. Desillusionierung und Unzufriedenheit wuchsen. Im April 1917 kam es in Berlin zu Massenstreiks gegen die Lebensmittelknappheit, die zweite große Streikwelle nach den Liebknechtstreiks von 1916.
Eine wachsende Zahl von SPD-Angeordneten reagierten auf die Unzufriedenheit, indem sie die Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigerten. Von der Parteimehrheit ausgeschlossen, gründeten sie schließlich – mehr getrieben als aus eigener Initiative – die Unabhängige SPD. Die USPD, in deren Reihen der Spartakusbund als unabhängige Fraktion arbeitete, war eine zentristische Partei, die jeden revolutionären Impuls vermissen ließ.
Im Oktober 1917 führten in Russland Liebknechts Freunde und Genossen, die Bolschewiki, die Arbeiterklasse an die Macht und beendeten den Krieg. Die Oktoberrevolution hatte eine elektrisierende Wirkung auf die Arbeiter und Unterdrückten der ganzen Welt.
Im Januar 1918 entwickelte sich in Deutschland eine dritte Streikwelle, an der sich über eine Million Arbeiter beteiligten. Sie richtete sich direkt gegen den Krieg und war mit Massendemonstrationen sowie der Gründung von Arbeiterräten verbunden. Der Spartakusbund, die USPD und die Revolutionären Obleute, ein konspiratives Netzwerk in den Betrieben, spielten darin die führende Rolle. Die Regierung beendete die Januarstreiks durch den brutalen Einsatz von Militär und Polizei.
Als die Kriegsniederlage nicht mehr aufzuhalten war, ernannte der Kaiser am 3. Oktober eine neue Regierung unter Prinz Max von Baden, der erstmals auch zwei SPD-Mitglieder angehörten. Sie sollte die sich abzeichnende Revolution stoppen und einen Waffenstillstand aushandeln.
Am 23. Oktober wurde Liebknecht im Rahmen einer Amnestie vorzeitig aus der Haft entlassen. Er reiste sofort nach Berlin, um den Spartakusbund zu reorganisieren und in Zusammenarbeit mit den Revolutionären Obleuten und USPD-Mitgliedern einen Aufstand vorzubereiten. Der Termin wurde mehrmals verschoben, bis die Kieler Matrosen ihm schließlich zuvorkamen.
Am 29. Oktober erhoben sie sich, um das Auslaufen der deutschen Kriegsflotte zu einer selbstmörderischen letzten Schlacht zu verhindern. In den folgenden Tagen verbreitete sich die Revolution wie ein Lauffeuer über das ganze Land. Überall entstanden Arbeiter- und Soldatenräte, die faktisch die Macht ausübten und sie in Bremen und München auch formal übernahmen.
Am 9. November musste der Kaiser abdanken. Um einer sozialistischen Revolution zuvorzukommen, rief der rechte Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Republik aus. Er tat dies gegen den Willen des SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert, der Prinz von Baden als Regierungschef ablöste und eine konstitutionelle Monarchie vorgezogen hätte. Die neue Regierung nannte sich Rat der Volksbeauftragten. Neben drei SPD- gehörten ihr auch drei USPD-Mitglieder an, deren Aufgabe darin bestand, sie gegen den Druck der Massen abzuschirmen. Praktisch waren sie macht- und einflusslos.
Ebert und Scheidemann konzentrierten sich darauf, den revolutionären Aufstand zu unterdrücken und die alten herrschenden Eliten zu retten. Großgrundbesitz, adlige Privilegien und Kapitaleigentum wurden nicht angetastet. Beamte und Offiziere blieben bis in die höchsten Stellen von Regierung, Verwaltung und Armee im Amt. Ebert verbündete sich mit der obersten Heeresleitung und organisierte Freikorps aus rechtsextremen Soldaten, um die immer wieder aufflammenden revolutionären Kämpfe im Blut zu ertränken.
Die deutsche Revolution von 1918 war, wie Leo Trotzki später feststellen sollte, „keine demokratische Vollendung der bürgerlichen Revolution: es ist eine von der Sozialdemokratie enthauptete proletarische Revolution: richtiger gesagt, es ist die bürgerliche Konterrevolution, die nach dem Siege über das Proletariat gezwungen ist, pseudodemokratische Formen zu bewahren“.
Liebknecht war die Seele der revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse. Er war allgegenwärtig und genoss enormen Respekt. Er kämpfte – wie ein Jahr zuvor die Bolschewiki in Russland – für die Machtübernahme der Arbeiterklasse. Unmittelbar nachdem Scheidemann die bürgerliche Republik proklamiert hatte, rief er vor einer jubelnden Menge im Zentrum Berlins die Räterepublik aus. Es würde einen eigenen Artikel erfordern, den Verlauf der revolutionären Kämpfe jener Wochen und Liebknechts Rolle darin zu schildern.
Der Spartakusbund wuchs rasant und brach nun vollständig mit der USPD. Gemeinsam mit Rosa Luxemburg gab Liebknecht die Tageszeitung Rote Fahne heraus. Zum Jahreswechsel gründeten sie in Berlin die Kommunistische Partei.
Der große Nachteil der deutschen Arbeiter gegenüber den russischen war das Fehlen einer revolutionären Partei wie den Bolschewiki, die im jahrelangen Kampf gegen den Opportunismus gestählt und tief in der Arbeiterklasse verankert waren. Der vollständige Bruch der deutschen Revolutionäre mit SPD und USPD erfolgte erst, als Krieg und Revolution bereits in vollem Gange waren.
Nur eine Woche nach der Gründung der KPD brach in Berlin der Spartakusaufstand aus. Die Revolutionären Obleute reagierten auf die Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn von der USPD durch die Regierung Ebert mit einem Generalstreik und besetzten unter anderem die Redaktion des sozialdemokratischen Vorwärts. Liebknecht trat in die Streikleitung ein und rief – gegen den Rat Rosa Luxemburgs – zur Volksbewaffnung auf. Doch die Aufständischen waren zu schwach, um die geballte Reaktion zu besiegen. Sie schlug den Aufstand nieder und veranstaltete ein Blutbad.
Auf Berliner Straßen hingen nun Plakate: „Schlagt ihre Führer tot.“ Am 15. Januar wurden Luxemburg und Liebknecht, die sich in der Stadt versteckt hielten, denunziert, verhaftet und ins Hotel Eden, das Hauptquartier der konterrevolutionären Garde-Kavallerie-Schützen-Division, überstellt. Dort wurden sie verhört, gefoltert und ermordet.
Die KPD war ihrer beiden führenden Köpfe beraubt, ein Schlag, von dem sie sich nie wieder erholte. Im Oktober 1923 verpasste sie eine außergewöhnlich günstige revolutionäre Chance und in den folgenden Jahren geriet sie unter den Einfluss Stalins, dessen verheerende „Sozialfaschismus“-Politik sie politisch entwaffnete und die Machtübernahme Hitlers ermöglichte.
Ein Jahrhundert nach Liebknechts Tod stellen sich alle Fragen, mit denen die damalige Generation von Marxisten konfrontiert war, wieder in aller Schärfe. Die Corona-Pandemie hat die wirtschaftliche, soziale und politische Krise des kapitalistischen Weltsystems enorm zugespitzt. Die Herrschenden rüsten für einen Dritten Weltkrieg, gehen über Leichen, um ihre Profite zu mehren, und stoßen Millionen in Arbeitslosigkeit und Armut. Dagegen wächst in der Arbeiterklasse die Opposition. Die revolutionären Prinzipien des Klassenkampfs, der internationalen Einheit der Arbeiter und des Kampfs gegen Krieg, für die Liebknecht Zeit seines Lebens gekämpft hat, gewinnen so entscheidende Bedeutung.
Liebknechts Leben ist zugleich Vorbild und Inspiration. Alles hängt nun davon ab, eine Partei aufzubauen, die seine Kühnheit und seinen revolutionären Enthusiasmus mit einer historisch und wissenschaftlich fundierten sozialistischen Perspektive verbindet. Am Tag seiner Ermordung veröffentlichte die Rote Fahne seinen Artikel „Trotz alledem“ über die Niederlage des Spartakusaufstands. Die Worte, die er darin der Reaktion entgegenschleuderte, sind hochaktuell.
Die Revolution des Proletariats, die sie im Blute zu ersäufen dachten, sie wird sich über sie erheben, riesengroß. Ihr erstes Wort wird sein: Nieder mit den Arbeitermördern Ebert-Scheidemann-Noske! Die Geschlagenen von heute, sie haben gelernt. Sie sind geheilt vom Wahne, ihr Heil in der Hilfe verworrener Truppenmassen finden zu können; geheilt vom Wahne, sich auf Führer verlassen zu können, die sich kraftlos und unfähig erwiesen; geheilt vom Glauben an die unabhängige Sozialdemokratie, die sie schnöde im Stich ließ. Nur auf sich selbst gestellt, werden sie ihre künftigen Schlachten schlagen, ihre künftigen Siege erfechten. Und das Wort, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das eigene Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, es hat durch die bittere Lehre dieser Woche eine neue, tiefere Bedeutung für sie gewonnen.