Am Sonntagabend begann in Genf der „Dialog über strategische Stabilität“, den US-Präsident Joe Biden und sein russischer Gegenpart Wladimir Putin im vergangenen Sommer vereinbart hatten. Die Leiter der beiden hochrangigen Delegationen, US-Vizeaußenministerin Wendy Sherman und der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow, trafen sich zu einem ersten Arbeitsessen. Am Montag starteten dann die eigentlichen Verhandlungen.
Bereits im Vorfeld der bilateralen Gespräche war deutlich geworden, dass sie keine Runde der Entspannung einleiten, sondern lediglich eine weitere Etappe der Kriegsvorbereitungen der USA und ihrer europäischen Verbündeten gegen Russland sind.
Seit Wochen warfen die Nato-Länder Russland vor, es plane einen militärischen Angriff auf die Ukraine, und drohten mit massiven Gegenmaßnahmen, die von der Nichtinbetriebnahme der Pipeline Nord Stream 2 bis zum Ausschluss aus dem globalen Finanztransaktionssystem SWIFT reichen. Man setze nicht auf eine allmähliche Eskalation, sondern auf sofortige Vergeltung, erklärte das US-Außenministerium.
Russland verlangte seinerseits Sicherheitsgarantien. Mitte Dezember legte Moskau zwei Vertragsentwürfe vor, die die USA und die Nato verpflichten, auf eine weitere Erweiterung der Nato sowie auf militärische Aktivitäten in Osteuropa, dem Kaukasus und Zentralasien zu verzichten.
Washington stellte sofort klar, dass es niemals eine derartige Verzichtserklärung unterzeichnen und keine „roten Linien“ akzeptieren werde. Es erklärte sich lediglich bereit, über Rüstungskontrolle, eine wechselseitige Beschränkung der Stationierung von Raketen und eine beiderseitige Begrenzung militärischer Übungen zu sprechen. Der 1987 noch mit der Sowjetunion vereinbarte INF-Vertrag über den Verzicht auf bestimmte Kurz- und Mittelstreckenraketen war 2019 von US-Präsident Donald Trump einseitig gekündigt worden.
Trotz der ablehnenden Haltung der USA zeigte sich die Europäische Union alarmiert, dass sich Washington und Moskau über ihre Köpfe hinweg einigen könnten.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte anlässlich eines Besuchs in der Ukraine: „Wir leben nicht weiter in den Zeiten von Jalta,“ wo die Großmächte 1945 Europa aufteilten. Die Ukraine sei Teil Europas und die EU könne nicht Zuschauer sein, wenn die Vereinigten Staaten und Russland Europas Sicherheit diskutierten.
Der französische Sicherheitsexperte François Heisbourg klagte: „Es geht um unsere Sicherheit, aber wir sind nicht dabei.“ Die Europäer sorgten sich wegen dem Scheitern der USA in Afghanistan und ihrer strategischen Konzentration auf China, ob Präsident Biden noch konsequent sei. Außerdem fürchteten sie, dass er in den Zwischenwahlen im November stark geschwächt werde und Donald Trump 2024 ins Präsidentenamt zurückkehre.
Auch aus Deutschland kamen entsprechende Stimmen. Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen warnte bei ihrem Antrittsbesuch in Washington, es könne „keine Entscheidung über Sicherheit in Europa ohne Europa“ geben.
Schon als die Pläne über das Treffen in Genf bekannt wurden, hatte der langjährige Leiter des Ressorts Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung Stefan Kornelius geschrieben: „Sollte dieser Plan umgesetzt werden, muss sich die Europäische Union auf eine gewaltige Demütigung einstellen: eine Konferenz über die Sicherheit der Staaten Europas – ohne die Staatengemeinschaft Europas.“
Europa, die Ukraine und die belarussische Opposition seien „deutlich weiter in ihrem Selbstverständnis von Sicherheit und Ordnung, als dass sie sich von zwei Herren in Moskau und Washington in ein altes Korsett zwängen lassen müssten“. Russlands Aufwertung könne und dürfe nicht zu einer Entwertung der Europäischen Union führen, betonte Kornelius.
Der eskalierende Konflikt zwischen der Nato und Russland, der Europa ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder in einen verheerenden Krieg zu stürzen droht, ist ein vernichtendes Urteil über die Folgen der kapitalistischen Restauration in Osteuropa und der Sowjetunion.
Seit sich der letzte sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow vor dreißig Jahren den imperialistischen Mächten um den Hals warf und die Sowjetunion auflöste, hat die Nato Russland militärisch immer enger eingekreist. Trotz feierlicher Versprechen, Osteuropa und ehemalige Sowjetrepubliken nicht zu militarisieren, sind heute alle ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts sowie die ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken Mitglieder der Nato. Diese führt regelmäßig Manöver an der russischen Grenze durch und hat eine schnelle Eingreiftruppe aufgebaut, die Russland innerhalb weniger Tagen angreifen kann.
Einen Wendepunkt erreichte die militärische Umzingelung Russlands 2014, als die USA, Deutschland und andere europäische Mächte in der Ukraine einen Umsturz organisierten, der mithilfe faschistischer Milizen ein prowestliches Regime an die Macht brachte. Seither wird das Land, das über eine 2300 Kilometer lange Grenze zu Russland verfügt, systematisch aufgerüstet.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Allein die USA haben der Ukraine seit 2014 Militärhilfen im Wert von mehr als 2,5 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Aber auch zahlreiche europäische Länder – darunter Tschechien, Polen, Frankreich, Großbritannien und insbesondere die Türkei – versorgten das Land mit Waffen.
In Deutschland hat sich der Vorsitzende der Grünen und heutige deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck bereits im vergangenen Jahr für Waffenlieferungen an das ukrainische Militär ausgesprochen. Auch Wolfgang Ischinger, die graue Eminenz der deutschen Außenpolitik, forderte zum Jahresende in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung: „Eine ‚Ertüchtigung‘ der Defensivkraft der Ukraine sollte für Berlin kein Tabu sein. Berlin sollte dabei nicht am Spielfeldrand stehen.“
Dabei ist das Regime in Kiew, das von rivalisierenden Oligarchencliquen beherrscht wird und für weitverbreitetes soziales Elend verantwortlich ist, chronisch instabil und entsprechend gefährlich. Es nimmt immer wieder zu nationalistischen Provokationen Zuflucht, um sich an der Macht zu halten, was die Kriegsgefahr zusätzlich erhöht.
Es ist bezeichnend, dass der frühere Präsident Petro Poroschenko, der durch den Putsch von 2014 an die Macht gelangte, inzwischen von seinem Nachfolger Wolodymyr Selenskyj wegen Hochverrats gesucht wird. Ihm wird vorgeworfen, sich durch verbotene Kohlelieferungen aus der von pro-russischen Separatisten kontrollierten Ostukraine bereichert zu haben.
Das russische Regime von Präsident Putin, das selbst die Interessen von Oligarchen vertritt, hat der Kriegsgefahr nichts entgegenzusetzen. Es schwankt zwischen militärischen Drohgebärden und diplomatischen Manövern, ist aber völlig unfähig, an die internationale Arbeiterklasse zu appellieren, die als einzige gesellschaftliche Kraft die Kriegsgefahr stoppen kann.
Neben den bilateralen Gesprächen in Genf sind in dieser Woche noch weitere Treffen geplant. Am Mittwoch trifft sich zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder der Nato-Russland-Rat und am Donnerstag der Ständige Rat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) – das einzige Format, in dem auch die Ukraine selbst vertreten ist. Doch keines dieser Treffen wird die Kriegsgefahr abschwächen. Diese ergibt sich letztlich aus den unlösbaren Widersprüchen des Weltkapitalismus – der Unvereinbarkeit der Weltwirtschaft mit dem Nationalstaat und des gesellschaftlichen Charakters der Produktion mit dem kapitalistischen Privateigentum.
Konfrontiert mit zunehmenden geopolitischen Konflikten und wachsendem Widerstand gegen soziale Ungleichheit und ihre mörderische Coronapolitik kennt die herrschende Klasse wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinen anderen Ausweg als Krieg und Diktatur. Nur eine vereinte sozialistische Offensive der internationalen Arbeiterklasse kann eine solche Katastrophe verhindern.
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