Perspektive

Warum hat es so lange gedauert? New York Times, Guardian und Spiegel fordern schließlich Assanges Freilassung

Vor zehn Jahren wurde der Wikileaks-Herausgeber Julian Assange gezwungen, in der ecuadorianischen Botschaft in London Zuflucht zu suchen. Vor drei Jahren wurde er verhaftet, und seitdem sitzt er in Isolationshaft in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis. Jetzt endlich haben die Herausgeber und Verleger der New York Times, des Guardian, von Le Monde, El País und Der Spiegel einen Offenen Brief publiziert, in dem sie US-Präsident Joe Biden auffordern, Assanges Verfolgung einzustellen.

Jetzt endlich, nach so langer Zeit, räumen all diese Publizisten ein, welche Bedeutung und welch vitales öffentliches Interesse dem Material, das Assange veröffentlichte, innewohnt. Sie stellen fest: „Die diplomatischen Depeschen … entlarvten Korruption, diplomatische Skandale und Spionageaffären von internationalem Ausmaß“, und sie zeigten „ungeschönt, wie die US-Regierung ihre wichtigsten Entscheidungen trifft, Entscheidungen, die das Land viele Menschenleben und viel Geld kosten“.

„Und noch immer“, heißt es weiter, „veröffentlichen Journalisten und Historiker neue Enthüllungen, die auf diesem einzigartigen Dokumentenschatz basieren.“

Weiter heißt es im Offenen Brief: „Am 12. April 2019 wurde Assange aufgrund eines US-amerikanischen Haftbefehls in London festgenommen. Er sitzt seit rund dreieinhalb Jahren in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis, in dem ansonsten Terroristen oder Mitglieder des organisierten Verbrechens eingesperrt werden. Ihm droht die Auslieferung an die USA und eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren in einem amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis.“

Die Verfasser kritisieren die Rechtsgrundlage, nach der Assange die Verurteilung droht: „Das US-Justizministerium nutzte das alte Anti-Spionage-Gesetz von 1917, einst gedacht für die Verurteilung von Spionen während des Ersten Weltkriegs. Es wurde nie zuvor angewendet, um einen Herausgeber oder Journalisten vor Gericht zu stellen.“

Der Brief kommt zu dem Schluss: „Die Anklage gegen Assange ist ein gefährlicher Präzedenzfall und ein Angriff auf die Pressefreiheit.“

Und er endet mit den Worten: „Es zählt zu den Kernaufgaben von Journalistinnen und Journalisten in demokratischen Staaten, Fehler von Regierungen zu kritisieren. Sensible Informationen zu beschaffen und zu publizieren, wenn das im öffentlichen Interesse liegt, ist Teil unserer täglichen Arbeit. Wer diese Arbeit kriminalisiert, schwächt den öffentlichen Diskurs und damit die Demokratie.“

Der offene Brief macht deutlich, dass Assange Opfer eines ungeheuerlichen staatlichen Rachefeldzugs geworden ist, der ihn Jahre seines Lebens und seine Gesundheit gekostet hat. Dies alles, weil er staatliche Verbrechen aufgedeckt hat. An ihm wird ein Exempel statuiert, er soll als abschreckendes Beispiel für andere dienen.

Jedoch stellt sich die Frage: Warum hat es so lange gedauert? Warum hat es 10 Jahre gebraucht, bis Spiegel, New York Times, Guardian und andere Leitmedien endlich das Ende von Assanges Strafverfolgung fordern?

In den letzten zehn Jahren haben sich diese Medien ausgesprochen schäbig verhalten. Sie haben gegen Assange Stimmung gemacht, den öffentlichen Diskurs über ihn vergiftet und den falschen Behauptungen und Anschuldigungen gegen ihn Glaubwürdigkeit verliehen. Damit haben sie es dem amerikanischen Staat leicht gemacht, diesen prinzipientreuen und mutigen Journalisten zu verfolgen.

Zunächst hatte der britische Guardian bei der Veröffentlichung der diplomatischen Depeschen noch mit WikiLeaks zusammengearbeitet. Doch nur einen Monat später brach die Zeitung die Beziehungen ab und löste kurz darauf eine Rufmordkampagne aus, die darauf abzielte, Assange weltweit zum Paria zu machen. Und alle Medien der Welt griffen sie auf.

In einem Leitartikel vom Dezember 2010 mit dem Titel „WikiLeaks: the man and the idea“ (WikiLeaks: der Mann und die Idee) erläuterte der Guardian seine frühere Zusammenarbeit mit Wikileaks und wies auf die „nur kleine Anzahl von Dokumenten“ hin, die veröffentlicht worden sei. Dabei habe es einen sorgfältigen Prozess der „Bearbeitung, Kontextualisierung, Erklärung und Unkenntlichmachung“ gegeben, wie die Zeitung betonte. Mit anderen Worten: Sie habe gehandelt, um die Auswirkungen der in den Dokumenten enthaltenen Details über Mord, Folter, Spionage und Korruption unter Kontrolle zu halten.

Sodann wandten sich der Guardian und andere Publikationen bösartig gegen Assange. Sie konzentrierten ihre Angriffe auf eine schwedische Untersuchung wegen angeblicher sexueller Nötigung, die komplett erfunden war, und ein Auslieferungsersuchen. Damit beschädigten sie Assanges Ansehen, trugen zu seiner Verfolgung bei und bereiteten die Auslieferung an die USA vor.

Die Geschichte ist längst gründlich entlarvt, widerlegt und aufgegeben. Doch sie diente dazu, Assange nicht weniger als sieben Jahre lang willkürlich festzuhalten. Er sah sich gezwungen, in der ecuadorianischen Botschaft in London Asyl zu beantragen, während die Polizei ständig vor dem Gebäude auf ihn lauerte. Diese ganze Zeit, in der Assange durch den US-Geheimdienst ausspioniert und zum Gegenstand von Entführungs- und Mordplänen gemacht wurde, verschweigt der Offene Brief.

Währenddessen ging der Rufmord an Assange immer weiter. Der Guardian ging so weit, ein Treffen zwischen Assange und dem Donald-Trump-Verbündeten Paul Manafort zu erfinden – worüber exklusiv berichtet wurde. Damit sollte ihm ein Mitwirken in der angeblichen Verschwörung der russischen Regierung im Rahmen der US-Präsidentschaftswahl 2016 angedichtet werden.

Auch als das ganze Ausmaß des US-Verfahrens gegen Assange im April 2019 bekannt wurde, reagierte der Guardian zunächst mit dem neuerlichen Vorschlag, Assange an Schweden auszuliefern. So sollte die Schwierigkeit mit den US-Spionagegesetzen umgangen – und Assange zum Schweigen gebracht werden.

Eins hat der Offene Brief deutlich gemacht: Die Herausgeber und Verleger dieser Zeitungen waren sich von Anfang an im Klaren, dass Assange als Journalist gehandelt und keine Straftat begangen hatte.

Wenn sich der Guardian, die New York Times, der Spiegel u.a. jetzt in einer Kehrtwende ausdrücklich gegen Assanges Verfolgung aussprechen, dann passiert dies aus der Sorge heraus, dass ein Schauprozess gegen einen Journalisten, der US-Kriegsverbrechen aufgedeckt hat, die Regierung Biden in eine schwere politische Krise stürzen könnte.

Ein Prozess gegen Assange würde in der Bevölkerung auf massiven Widerstand stoßen. Er würde die vom US-Imperialismus begangenen Verbrechen erneut ins Bewusstsein heben – auch solche, die zur Zeit der Demokratischen Regierung von Barack Obama verübt wurden, als Biden Vizepräsident war.

Diese Aufdeckung von US-Kriegsverbrechen käme genau zu der Zeit, in der die Vereinigten Staaten ihren Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine ausweiten. Immerhin wird dieser Krieg der Öffentlichkeit mit der Begründung verkauft, die US-Intervention würde russische Gräueltaten verhindern.

Außerdem würde ein Prozess aufdecken, welche verwerfliche Rolle die New York Times, der Guardian, der Spiegel und die anderen Medien bei Assanges Verfolgung spielten.

Die Arbeiterklasse muss ihren Kampf um Assanges Befreiung verdoppeln. Die World Socialist Web Site weist seit langem warnend darauf hin, dass die US-Regierung die Bedingungen schaffen will, um Journalisten, Verleger und Aktivisten zu verfolgen. Die WSWS hat bereits vielfach festgestellt, dass Assange das Opfer einer monströsen kriminellen Verschwörung ist, an der die mächtigsten Regierungen der Welt, die Geheimdienste und Leitmedien beteiligt sind.

Assanges Verteidigung muss sich auf die internationale Arbeiterklasse stützen, eine Kraft, die mächtiger ist als alle Regierungen, Geheimdienste und Konzerne zusammen. Assanges Verteidigung muss zentraler Bestandteil bei der Offensive gegen Militarismus und alle Angriffe auf demokratische und soziale Rechte sein. Der Krieg zwischen der Nato und Russland geht weiter – mit der enthusiastischen Unterstützung der New York Times, des Spiegel, des Guardian, von Le Monde und El País. Deshalb ist dieser Kampf heute wichtiger denn je.

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