Tausende Israelis fordern Netanjahus Rücktritt

Regierung will abweichende Meinungen unterdrücken

Am Samstagabend nahmen Tausende von Israelis an Kundgebungen im ganzen Land teil. Sie forderten die Regierung auf, die sofortige Freilassung der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln sicherzustellen. Auch Forderungen nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wurden laut.

Die Hauptkundgebung fand in Tel Aviv statt, wo die Teilnehmer zum Hauptquartier der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) zogen. Sie kritisierten Ministerpräsident Benjamin Netanjahus Regierung, weil sie nichts tut, um die Freilassung der Geiseln zu gewährleisten. In den fünf Wochen seit dem 7. Oktober hat sie die Geiseln kaum erwähnt.

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Noam Perry, dessen 79-jähriger Vater am 7. Oktober von der Hamas entführt worden war, sagte über die Regierung: „Erzählt mir nichts vom Erobern oder Plattmachen. Erzählt mir überhaupt nichts mehr. Tut was, um sie nach Hause zu bringen.“ Ein anderer sagte, das Vertrauen in die Regierung sei vollkommen dahin. Auf Plakaten stand: „Es gibt keine militärische Lösung“, „Mein Schmerz ist nicht eure Waffe“ und: „Waffenstillstand jetzt!“

In Netanjahus Heimatstadt Caesarea forderten Demonstranten seinen Rücktritt. In Jerusalem beteiligten sich etwa 1.000 Menschen an einer Schweigekundgebung zur Unterstützung der Geiseln. In der gemischt arabisch-jüdischen Stadt Haifa forderten Demonstranten eine neue Regierung und erklärten, sie weigerten sich, auf das Ende des Kriegs zu warten. Anschließend fuhr ein Konvoi zu der Demonstration in Caesarea. Weitere Kundgebungen fanden in Beer Sheva und Eilat statt.

Die Demonstrationen waren zwar klein und spiegelten weiterhin die zionistische Opposition gegen die Netanjahu-Regierung wider. Dennoch sind sie Ausdruck wachsender Besorgnis über den Zweck und die Richtung des Kriegs, der auf die ganze Region zu eskalieren droht und das Überleben des Staates Israel gefährdet.

In einem offenen Brief haben 35 israelisch-jüdische und -arabische Friedens- und Menschenrechtsorganisationen die Regierung aufgefordert, sich für einen Waffenstillstand, für das Leben der Geiseln und für eine politische und diplomatische Lösung des Konflikts einzusetzen. Sie erklärten: „Es ist offensichtlich, dass es keine militärische Lösung für diesen Konflikt gibt und auch niemals geben kann. Der einzige Weg, das Blutvergießen zu beenden, ist ein politisches Abkommen, das beiden Nationen Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit garantiert.“

Zu den Gruppen gehören Machsom Watch, Rabbis for Human Rights, das Parents Circle Familiy Forum, Women in Black, Yesh Gvul, das Arava Institute for Environmental Studies und die jüdisch-arabische Partei Hadash. Sie fordern die Regierung auf, sich sofort „für ein umfassendes Gefangenenabkommen einzusetzen, keine unschuldigen Zivilisten mehr zu verletzen, der allgegenwärtigen Gewalt der Siedler im Westjordanland Einhalt zu gebieten und die Verfolgung und Unterdrückung palästinensischer Bürger Israels und derjenigen zu beenden, die sich mit den Bewohnern des Gazastreifens solidarisieren und den Krieg ablehnen.“

Weiter schreiben sie: „Das Verletzen von Unschuldigen auf der einen Seite gleicht den Schmerz nicht aus, den das Töten auf der anderen Seite verursacht, sondern schafft nur noch mehr Schmerz ... Im Krieg gibt es keine Gewinner. Nur Frieden wird Sicherheit bringen.“

Der Brief ruft außerdem dazu auf, die Gewalt der Siedler im Westjordanland einzudämmen und die Verfolgung palästinensischer Bürger Israels zu beenden, die ihre Solidarität mit den Einwohnern des Gazastreifens äußern und sich gegen den Krieg engagieren.

Auf Mondoweiss erschien ein weiterer Offener Brief einer Gruppe von Israelis mit dem Titel: „Wir haben ein Recht auf die Wahrheit über den 7. Oktober“. Darin heißt es: „Als Israelis fordern wir eine offizielle Untersuchung der Ereignisse vom 7. Oktober. In Gaza findet im Namen der israelischen Opfer ein Völkermord statt, und wir wissen immer noch nicht, wer getötet wurde, und wie und von wem sie getötet wurden. Wir fordern Antworten, und das sollten Sie auch.“

Der Brief zieht Parallelen zwischen der Rhetorik, welche die Regierung im Inland und international verbreitet, und der Nazi-Propaganda. Die Autoren erklären, die Regierung begehe einen Völkermord „im Namen der israelischen Opfer des Angriffs vom 7. Oktober, obwohl deren Familien solche rachsüchtige Gräueltaten entschieden ablehnen“. Sie weisen darauf hin, dass laut der Hamas bereits 50 Geiseln durch israelische Bombenangriffe getötet worden seien. Die Regierung veröffentlicht jedoch weder eine vollständige Liste der Opfer, noch erklärt sie, wie und von wem sie getötet wurden. Der Brief verweist auf Behauptungen, mehrere Geiseln seien von israelischen Sicherheitskräften bei Kämpfen gegen die Angreifer getötet worden.

Dass die Verfasser aus Angst vor Repressalien ihre Namen nicht veröffentlicht haben, zeugt von der ununterbrochenen Propaganda und Einschüchterung, die die israelische Regierung und ihre unterwürfigen Medien, einschließlich der liberalen Ha'aretz, betreiben.

Es gibt so gut wie keine Berichte, Bilder oder Videoaufnahmen über das schreckliche Massaker im Gazastreifen, durch das mehr als 11.000 Palästinenser – die Mehrheit davon Frauen, Kinder und Alte – getötet und viele weitere unter Trümmern begraben wurden. Stattdessen konzentrieren sich die Medien unaufhörlich auf den Kummer und das Leid der Familien derjenigen, die durch den Angriff vom 7. Oktober getötet, verwundet oder obdachlos wurden.

Bisher hat noch kein Minister des Kabinetts die trauernden Angehörigen oder die südlichen Städte und Dörfer besucht, weil sie eine wütende Reaktion befürchten. Gleichzeitig sprechen sie aber bezüglich des Gaza von einem Kampf gegen „menschliche Tiere“, von einer „zweiten Nakba“, und dass sie Gaza „dem Erdboden gleichmachen“ wollen. Sie sprechen vom Einsatz von Atomwaffenwaffen und der ethnischen Säuberung des Gazastreifens.

Israelische Frauen nach einem heftigen Streit mit einem rechten Zionisten, Tel Aviv, 4. November 2023 [AP Photo/Bernat Armangue]

Die Netanjahu-Regierung hat eine Hetzkampagne im Stil der McCarthy-Ära begonnen, um die freie Meinungsäußerung und jeden Dissens und jede Opposition gegen den Krieg zu unterdrücken. Sie verunglimpft diejenigen, die auf die Palästinenser zugehen und einen Waffenstillstand fordern, als Verräter, „Terroristenunterstützer“ und „innere Feinde“. Vor kurzem hat sie ein Gesetz eingeführt, laut dem es eine Straftat darstellt, in den sozialen Netzwerken Material, das die Hamas unterstützt, auch nur zu betrachten.

Dieses lange geplante harte Durchgreifen gegen die Meinungsfreiheit und gegen die Kritiker von Israels völkermörderischer Politik ergibt sich unweigerlich aus der Entschlossenheit der Regierung, die Vorherrschaft eines jüdischen Staats vom Mittelmeer bis zum Jordan zu errichten und sich selbst dafür diktatorische Vollmachten zu erteilen, was Gegenstand der neunmonatigen Protestbewegung war.

Die Regierung nimmt jetzt die ausländischen Medien ins Visier. Das Sicherheitskabinett berät über eine Notstandsverordnung, die es der Regierung erlaubt, Medien zu verbieten, wenn sie „die staatliche Sicherheit gefährden“. Derzeit richtet sich diese Maßnahme hauptsächlich gegen Al-Jazeera aus Katar.

Palästinensische Studenten und Lehrkräfte an den Universitäten und Hochschulen sind Ziel einer Hexenjagd. Laut der wichtigsten palästinensischen Rechtsberatungs- und Menschenrechts-Organisation Adalah wurden mehr als 100 Studenten und Lehrkräfte wegen ihrer Social-Media-Posts oder sogar wegen Chats in privaten WhatsApp-Gruppen über den Gazastreifen ausgeschlossen oder entlassen.

Im Gesundheitswesen, in dem palästinensische Israelis 40 Prozent der Belegschaft ausmachen, gibt es Schikanen und Einschüchterung. Eine systematische Kampagne wird geführt, um Ärzte und Pflegekräfte zu vertreiben, auch wegen Dingen, die sie vor dem Krieg geschrieben haben. Die korporatistischen israelischen Gewerkschaften des Gesundheitswesens und die Ärzteverbände tun nichts, um sie zu verteidigen.

Die Polizei und die Staatsanwaltschaft haben mehr als 120 arabische Staatsbürger wegen Posts angeklagt und verhaftet, die angeblich zum Terrorismus aufstacheln oder ihn unterstützen, oder in denen sie sich mit der Hamas identifizieren. Zuvor wurde unter der Leitung des nationalen Sicherheitsministers, Itamar Ben-Gvir, eine Taskforce für palästinensischen „Extremismus“ ins Leben gerufen.

Dies beschränkt sich nicht auf palästinensische Israelis. Dr. Meir Baruchin, ein 63-jähriger jüdischer Geschichtslehrer, der Namen und Bilder von Palästinensern postet, die von der israelischen Armee im Gazastreifen und im Westjordanland getötet worden sind, wurde entlassen und später wegen „Verschwörung zum Hochverrat“ in Untersuchungshaft genommen, weil er die Militäroperationen im Gazastreifen ablehnte. Am Freitag verlängerte ein Gericht in Jerusalem seine Untersuchungshaft um weitere vier Tage.

Die Polizei hat alle Kundgebungen zur Solidarität mit den Palästinensern in Gaza verboten und mehrere Dutzend Antikriegsdemonstranten wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verhaftet. Am Donnerstag wurden vier ehemalige arabisch-israelische Abgeordnete verhaftet, die eine Demonstration gegen den Krieg organisieren wollten. Ein Gericht ordnete weitere vier Tage Untersuchungshaft für sie an. In Haifa, Jerusalem und Umm al-Fahm wurden solche Kundgebungen gewaltsam aufgelöst.

Rechtsextremisten bedrohen linke Aktivisten, seitdem in den sozialen Medien persönliche Informationen über Zielpersonen veröffentlicht worden sind. In einem Fall hat ein Dutzend Anhänger des verstorbenen rechtsextremen Rabbis Meir Kahane den ultraorthodoxen Reporter und linken Aktivisten Israel Frey verbal und physisch angegriffen. Sie warfen Feuerwerkskörper auf sein Haus und verfolgten ihn, als er floh. Die Polizei unternahm nichts.

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