Entgegen der Anordnung des Internationalen Gerichtshofs vom Freitag hat Israel in den letzten zwei Tagen in der Stadt Rafah mehr als 60 Bombenangriffe durchgeführt. Am Sonntag wurden Millionen Menschen auf der ganzen Welt von Bildern erschüttert, die ein israelisches Massaker in einem Flüchtlingslager in einem der „sicheren“ Gebiete von Rafah zeigen, bei dem mindestens 35 Menschen, darunter Frauen und Kinder, getötet wurden.
Rafah wird seit drei Wochen ununterbrochen bombardiert. Jeden Tag rücken israelische Panzer Straße für Straße in die Stadt vor. Die Intensität des Bombardements und der Bodenangriffe hat dazu geführt, dass die Verteilung von humanitären Lebensmitteln in der Stadt vollständig eingestellt wurde, und Israel hat fast die gesamte Nahrungsmittelhilfe für das Gebiet eingestellt.
Im Gegensatz zu dem, was Millionen Menschen mit eigenen Augen sehen, haben die amerikanische und die britische Regierung öffentlich erklärt, dass es keine groß angelegte Offensive auf Rafah gebe. Sie behaupten, dass Israel lediglich „begrenzte“ Militäroperationen in der Stadt durchführe und dabei, in den Worten Bidens „alles tut, was es kann, um den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten“.
Diese absurde Lüge war am Dienstag Gegenstand eines höchst aufschlussreichen Wortwechsels im britischen Unterhaus.
Der stellvertretende britische Außenminister Andrew Mitchell wurde vom Abgeordneten Andy McDonald gefragt, wie die Regierung erklären könne, dass es in Rafah keine „signifikante“ Militäroffensive gebe, wenn doch 800.000 Menschen gewaltsam aus der Stadt vertrieben worden seien.
Darauf antwortete der stellvertretende Außenminister, dass sich die 800.000 Vertriebenen „entschieden“ hätten, zu gehen.
McDonald fragte: „Welche Wahl hatten sie, fortzugehen? War es einfach nur: ‚Ich glaube, ich möchte woanders leben‘? Ist das nicht eine groteske Behauptung?“
Die Behauptung, dass Palästinenser sich für die Flucht „entschieden“ hätten, ist zwar zweifellos grotesk, trägt aber eine immense historische Bedeutung.
Es handelt sich um eine Wiederholung dessen, was der weltbekannte israelische Historiker Ilan Pappé (der kürzlich auf einer Reise in die USA stundenlang verhört wurde) als den „Gründungsmythos“ des Zionismus bezeichnete: dass die „Nakba“ von 1948, bei der 750.000 Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben wurden, eine freiwillige Umsiedlung der Palästinenser war, die nicht durch das Vorgehen der israelischen Streitkräfte ausgelöst wurde.
Pappés 2006 erschienenes Buch The Ethnic Cleansing of Palestine (Die ethnische Säuberung Palästinas) ist eine vernichtende Entlarvung aller Lügen der offiziellen israelischen Geschichtsschreibung. Es zeigt, dass die Vertreibung und massenhafte Tötung von Palästinensern im Jahr 1948 das Ergebnis eines detaillierten, bewussten Plans war.
In einer erschreckenden Parallele zu den heutigen Ereignissen erklärt Pappé, dass Israel seine Pläne als Reaktion auf Angriffe einer arabischen Miliz tarnte: „Die zionistische Politik beruhte zunächst auf Vergeltungsmaßnahmen gegen palästinensische Angriffe im Februar 1947, entwickelte sich aber schließlich zu einer Initiative zur ethnischen Säuberung des gesamten Landes im März 1948.“ Er fährt fort:
Nachdem der Beschluss gefasst war, dauerte es sechs Monate, bis die Mission abgeschlossen war. Am Ende waren mehr als die Hälfte der einheimischen Bevölkerung Palästinas, fast 800.000 Menschen, entwurzelt, 531 Dörfer zerstört und elf Stadtviertel leergefegt worden. Der am 10. März 1948 beschlossene Plan und vor allem seine systematische Umsetzung in den folgenden Monaten war ein klarer Fall einer ethnischen Säuberungsaktion, die heute nach internationalem Recht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt. (S. 14, aus dem Englischen)
Der Völkermord im Gazastreifen stellt den Höhepunkt dessen dar, was laut Pappé „schon sehr früh das Ziel der zionistischen Bewegung war, als sie in Palästina auftauchte: so viel Palästina wie möglich mit so wenig Palästinensern wie möglich darin zu haben“.
Dass der gegenwärtige Völkermord Ausdruck eines bewussten Plans ist, ist kein Geheimnis. Am 22. September 2023, einen Monat vor dem Angriff auf Gaza, zeigte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Karte des „neuen Nahen Ostens“. Die Karte zeigte Israel mitsamt aller palästinensischen Gebiete als Teil eines geopolitischen Rahmens, zu dem die mit den USA verbündeten Staaten des Nahen Ostens – Ägypten, Sudan, Jordanien und Saudi-Arabien – gehören.
Netanjahu traf diese provokante Aussage nur zwei Tage nach einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden und Außenminister Antony Blinken in Washington. Während dieses Treffens erklärte Biden, dass mit der von den USA geführten Neuordnung des Nahen Ostens „der Traum von Generationen in Erfüllung gehen wird“ und fügte hinzu: „Sie haben mich schon oft sagen hören: Gäbe es Israel nicht, müssten wir es erfinden.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Dieses Treffen fand drei Wochen vor den Ereignissen des 7. Oktober statt, als Hamas-Kräfte die Grenze zum Gazastreifen überrannten, nachdem sich die israelischen Truppen absichtlich aus dem Gebiet zurückgezogen hatten. Damit wurde ein Plan der Hamas umgesetzt, der der israelischen Regierung seit über einem Jahr vorlag. Die Ereignisse dieses Tages setzten in Gang, was Landwirtschaftsminister Avi Dichter, Mitglied des israelischen Sicherheitskabinetts, als „Nakba 2023“ bezeichnete.
In der vergangenen Woche unterliefen Blinken in zwei getrennten Anhörungen von Senatsausschüssen zwei scheinbar identische verbale Ausrutscher, die die zugrunde liegende völkermörderische Absicht des amerikanischen Imperialismus offenbarten. In seiner Aussage am 21. Mai vor dem Ausschuss für auswärtige Beziehungen des Senats erklärte Blinken: „Es gibt eine Möglichkeit für Israel, sich in die Region zu integrieren, die Sicherheit zu bekommen, die grundlegende Sicherheit, die es braucht und will, und die Beziehungen zu haben, die es seit seiner Gründung gesucht hat. Aber damit es tatsächlich vorwärts geht, muss Gaza ein Ende haben.“
Bei einer anderen Anhörung des Senatsausschusses am selben Tag verwendete Blinken dieselbe Formulierung und erklärte, dass eine „Normalisierung“ ein „Ende des Gazastreifens“ voraussetzt.
Jeden Tag wird die tatsächliche US-israelische Politik des Völkermords und der ethnischen Säuberung deutlicher. Die Sicherung der von den USA dominierten Neuordnung des Nahen Ostens, die Biden als „Traum von Generationen“ bezeichnete, erfordert in der Tat das „Ende von Gaza“, d.h. die systematische Niederschlagung des organisierten Widerstands der palästinensischen Bevölkerung gegen die israelische Vorherrschaft.
Der Ausbruch weltweiter Kriegshandlungen, bei denen die imperialistischen Mächte Russland, China und den Iran ins Visier nehmen, gibt Israel und seinen imperialistischen Unterstützern die Gelegenheit, die „Endlösung“ der palästinensischen Frage zu verwirklichen.
Seit Jahrzehnten wird jeder von den USA und allen imperialistischen Mächten angezettelte Krieg mit der Wahrung der „Menschenrechte“ und der Verhinderung von Völkermord begründet. Von der Bombardierung Jugoslawiens bis zum Regimewechsel in Libyen wurde jeder Militärschlag als einzige Möglichkeit verkauft, einen drohenden Völkermord zu verhindern. Sogar der Krieg der USA und der Nato gegen Russland in der Ukraine wurde der Öffentlichkeit als Versuch verkauft, in Bidens Worten einen „Völkermord“ zu verhindern, bei dem „Putin einfach versucht, die Idee auszulöschen, überhaupt Ukrainer sein zu können“.
Die Ereignisse der letzten sieben Monate haben jedoch deutlich gemacht, dass die größten staatlichen Förderer von Völkermord und ethnischen Säuberungen die Vereinigten Staaten und ihre imperialistischen Verbündeten sind.