Nachdem der russische Präsident Wladimir Putin die russische Nukleardoktrin geändert hat, um russische Atomschläge als Vergeltung für Nato-Angriffe auf Russland von der Ukraine aus zu erlauben, bekräftigten Vertreter der Nato-Staaten ihre Drohungen, Ziele in ganz Russland mit Langstreckenraketen anzugreifen. Sie machen deutlich, dass die Nato entschlossen ist, den Beschuss von Zielen tief im russischen Kernland zu erlauben, selbst wenn dies den Kreml zum Einsatz von Atomwaffen provoziert.
Der scheidende Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte am Freitag in einer Rede bei der US-Denkfabrik Council on Foreign Relations, der Ukraine atomwaffenfähige F-16-Kampfflugzeuge und Langstrecken-Marschflugkörper zu liefern. Er betonte, die Nato-Mitgliedsstaaten seien bereit, diese Waffen einzusetzen, um Ziele „sehr tief“ in russischem Kernland anzugreifen:
Alle diese Waffen sind hochentwickelt, und einige Nato-Staaten haben den Einsatz dieser Waffen gegen legitime militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet nicht eingeschränkt. Andere Alliierte hatten Beschränkungen, aber die meisten von ihnen haben diese gelockert. ... Ich verstehe den Unterschied zwischen tief, tiefer und sehr tief in russischem Kernland, aber im Grunde haben wir diese Linien bereits mehrfach überschritten, weil wir nicht akzeptieren können, dass Russland versucht, die Kontrolle über die Ukraine zu erlangen und uns mit all diesen unterschiedlichen Drohungen daran zu hindern, die Ukraine zu unterstützen.
Die Nato erklärt im Grunde ihre Bereitschaft, einen Atomkrieg zu riskieren. Stoltenberg behauptete zwar absurderweise, „Abschreckung ist dazu da, einen Krieg zu verhindern“, doch seine Kommentare zeigen das genaue Gegenteil. Selbst die Bedrohung durch Russlands riesiges Atomwaffenarsenal reicht nicht aus, um die Nato davon abzuschrecken, sich auf ein massives Bombardement Russlands festzulegen. Tatsächlich hat die Nato bereits zivile Wohngebiete russischer Städte und russische Militärstützpunkte beschossen.
Stoltenberg erklärte weiter, die Nato führe einen globalen Konflikt, auch gegen Länder in Asien und dem Nahen Osten, die er als „Ermöglicher“ von Russlands Krieg in der Ukraine bezeichnete. Er verurteilte die Lieferungen von Artilleriegeschossen durch Nordkorea, die Lieferungen von Drohnen aus dem Iran und chinesische Lieferungen wichtiger industrieller Komponenten an Russland.
Vor allem verurteilte Stoltenberg China, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Er sagte:
Wir sehen sie in Afrika. Wir sehen sie in der Arktis. … Die Mikroelektronik, die Komponenten, die zum Bau der Bomben und Raketen benutzt werden, die Russland täglich gegen die Ukraine einsetzt, basieren auf Lieferungen aus China. Wenn man dann aber sagt, es sei eine regionale Sache, dann ist das nicht richtig. Denn die größten Ermöglicher von Russlands Krieg befinden sich außerhalb von Europa: Nordkorea, Iran und China.
Die Argumente der Nato-Vertreter – die Abschreckung sei vorhanden, oder der Kreml bluffe nur und würde keinen Angriff auf Nato-Ziele riskieren – sind bewusste Lügen. Mit ihrer massiven Eskalation der Angriffe auf Russland stacheln sie den Kreml zu drastischen Vergeltungsmaßnahmen an, die höchstwahrscheinlich den Einsatz von Atomwaffen beinhalten werden. Die Frage ist, welche Interessen hinter dieser extrem skrupellosen Strategie stehen, die einen Atomkrieg zu provozieren droht, der, wenn er eskaliert, die gesamte Menschheit vernichten könnte.
Die von der Nato unterstützte ukrainische Armee steht gegenwärtig vor einer Niederlage und Stoltenbergs Äußerungen machen deutlich, dass dies für die größten imperialistischen Mächte der Nato inakzeptabel ist. Wenn Russland militärisch geschlagen werden soll, erachten sie eine direkte Nato-Intervention als notwendig. Allerdings stößt dies in der Arbeiterklasse auf überwältigenden Widerstand: Ganze 91 Prozent der Nordamerikaner und 89 Prozent der Westeuropäer lehnen die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagene Entsendung von Truppen in die Ukraine ab.
Trotz erbitterter Kämpfe innerhalb der herrschenden Klasse ist es offensichtlich, dass mächtige Teile der Bourgeoisie der Nato-Staaten Russland zu einem Vergeltungsschlag provozieren wollen. Offenbar treibt sie die Hoffnung, dass der politische Schock im eigenen Land günstigere Bedingungen für einen europaweiten Krieg gegen Russland schaffen würde.
In offiziellen Kreisen ist bestens bekannt, dass solche lächerliche Argumente wie die von Stoltenberg, die Nato könne Russland beschießen, ohne damit einen Krieg zu riskieren, nichts als Lügen sind. Laut einem Bericht der New York Times vom Freitag warnen US-Geheimdienste, dass Nato-Raketenangriffe auf Russland russische Angriffe auf Nato-Ziele provozieren werden.
In dem Bericht ist zu lesen: „US-Geheimdienste gehen davon aus, dass Russland wahrscheinlich mit größerer Kraft, möglicherweise mit tödlichen Angriffen gegen die Vereinigten Staaten und ihre Koalitionspartner, zurückschlagen wird, wenn diese den Ukrainern erlauben, von den USA, dem Vereinigten Königreich und Frankreich gelieferte Langstreckenraketen für Angriffe tief im russischen Kernland zu benutzen.“ Weiter heißt es, Russlands Reaktion könnte von „Sabotageakten gegen Einrichtungen in Europa bis zu potenziell tödlichen Angriffen auf US-amerikanische und europäische Militärstützpunkte“ reichen.
Am Freitag drohte der belarussische Präsident Aleksandr Lukaschenko, Putins wichtigster verbliebener Verbündeter in Europa, in skrupelloser Weise mit dem Einsatz von Atomwaffen als Reaktion auf einen polnisch-amerikanischen Angriff auf sein Land. Bei einer öffentlichen Veranstaltung in Minsk erklärte er: „Sobald sie uns angreifen, werden wir Atomwaffen einsetzen. Russland wird uns verteidigen. ... Wenn wir Atomwaffen einsetzen, werden sie das Gleiche tun. Und auch gegen Russland. Also wird Russland sein gesamtes Arsenal an Waffen einsetzen. Das wird ein Weltkrieg sein. ... Wir sagen ihnen offen: Die rote Linie ist die Staatsgrenze. Wenn ihr sie überschreitet, werden wir sofort reagieren.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die militärischen Erwägungen, die russische und belarussische Regierungsvertreter dazu treiben, mit dem Einsatz von Atomwaffen auf Nato-Angriffe gegen Russland zu drohen, werden immer deutlicher. Es ist offensichtlich, dass der ukrainische Angriff auf das wichtige russische Munitionslager bei Toropez vor einer Woche die russische Armee beträchtlich geschwächt hat. Selbst wenn sie ihre Überlegenheit gegenüber der ukrainischen Armee, die durch einen fast dreijährigen Krieg ausgeblutet ist, weiter aufrechterhält, wäre sie jetzt gegenüber der Nato in einer viel schwächeren Position.
Am Freitag gab der stellvertretende Kommandant des estnischen Militärgeheimdienstes, Oberstleutnant Janek Kesselman, einen Bericht über den Angriff auf Toropez ab. Er erklärte: „Da die Russische Föderation eine beträchtliche Menge an Munition verloren hat, die für die Front bestimmt war, wird sie in den kommenden Monaten vermutlich Prioritäten setzen müssen.“
Zuvor hatte der Chef des estnischen Militärgeheimdienstes, Oberst Kiviselg, konkrete Details zu den russischen Verlusten an Munition durch den Angriff auf Toropez genannt: „30.000 Tonnen Sprengstoff sind explodiert, das bedeutet 750.000 Geschosse. Wenn wir die durchschnittliche Gefechtsrate zugrunde legen, können wir davon ausgehen, dass die Russische Föderation 10.000 Schuss pro Woche abgefeuert hat. Das bedeutet, es ist Munition für zwei bis drei Monate verlorengegangen. Infolge dieses Angriffs hat Russland Munitionsverluste erlitten, deren Auswirkungen an der Front wir in den kommenden Wochen sehen werden.“
Am Freitag berichtete Kesselman, dass die Zahl der russischen Vorstöße in der Ukraine drastisch zurückgegangen sei – von 226 pro Tag vorletzte Woche auf 155 pro Tag letzte Woche. Allerdings fügte er hinzu, die vollen Auswirkungen des Angriffs auf Toropez würden wahrscheinlich erst „in zwei bis drei Wochen spürbar sein“, wenn die vorgelagerten russischen Munitionsbestände erschöpft seien.
Dies wirft nicht nur ein Schlaglicht darauf, wie skrupellos die imperialistischen Nato-Mächte vorgehen, die die Hauptrolle bei der Eskalation des Konflikts spielen, sondern auch auf den Bankrott der postsowjetischen kapitalistischen Regime in Russland und Belarus. Angesichts dessen, dass sie nicht in der Lage sind, an die massive Antikriegsstimmung in der internationalen Arbeiterklasse zu appellieren, und ihre Armeen zudem den vereinten Truppen der Nato-Mächte zahlenmäßig unterlegen sind, bleibt ihnen nichts anderes als die Drohung mit einem atomaren Armageddon. Doch selbst das reicht nicht aus, um die Nato-Mächte von einer weiteren Eskalation abzuschrecken.
Die dringendste Aufgabe, die sich aus diesen Entwicklungen ergibt, besteht im Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung in der Arbeiterklasse, um das immer schnellere Abgleiten des Kapitalismus in einen Dritten Weltkrieg aufzuhalten.