Koalitionsvertrag in Thüringen: Wagenknecht lässt die Maske fallen

Knapp drei Monate nach der thüringischen Landtagswahl vom 1. September haben die CDU, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die SPD am Freitag einen Koalitionsvertrag vorgestellt. Stimmen die Parteigremien zu, was als wahrscheinlich gilt, wird der CDU-Vorsitzende Mario Voigt im Dezember zum neuen Ministerpräsidenten des Landes gewählt.

Die Thüringer BSW-Vorsitzende Katja Wolf [Photo by Steffen Prößdorf / CC BY-SA 4.0]

Das 126-seitige Koalitionspapier bestätigt, was wir in einem früheren Artikel über Wagenknechts neue Partei geschrieben haben: „Das BSW ist keine Alternative zu den etablierten Parteien, sondern ein Versuch, inmitten der tiefsten globalen Krise des Kapitalismus neue Stützen für die kapitalistische Herrschaft zu errichten.“

Die sogenannte Brombeer-Koalition hat sich auf ein drastisches Sparprogramm verständigt, das mit einer massiven Aufrüstung des staatlichen Unterdrückungsapparats und der Übernahme der rechtsextremen Flüchtlingspolitik der AfD einhergeht. Da die drei Parteien nur über 44 der 88 Landtagsmandate verfügen, sind sie bei Kampfabstimmungen auf die Unterstützung von mindestens einem der 32 AfD- oder der 12 Linken-Abgeordneten angewiesen.

Die entscheidenden Abätze des Koalitionsvertrags finden sich weit unten, auf Seite 118, im Kapitel „Landeshaushalt und Finanzen“. „Mit Blick auf ein strukturelles Haushaltsdefizit von über 1,3 Milliarden Euro werden wir umgehend Maßnahmen ergreifen, um den Landeshaushalt zu konsolidieren,“ heißt es dort. Bei einem Gesamthaushalt von 13,5 Milliarden Euro bedeutet das Einsparungen von 10 Prozent.

Die Schuldenbremse, die keine Aufnahme zusätzlicher Kredite erlaubt, soll dabei eingehalten werden. „Umschichtungen im Haushalt und Priorisierungen von Ausgaben werden unverzichtbar sein, um schuldenbremsenkonforme Haushalte aufzustellen,“ steht dazu im Koalitionsvertrag. Das bedeutet, dass höhere Ausgaben – z.B. für die vereinbarte Einstellung von 1800 weiteren Polizisten – durch zusätzliche Einsparungen in anderen Bereichen kompensiert werden müssen.

Das Papier sieht zwar eine „Modernisierung“ der Schuldenbremse und einige buchhalterische Tricks vor, wie längere Tilgungsfristen für Notlagen-Kredite. Aber solche Maßnahmen werden bei weitem nicht ausreichen, um das gewaltige Haushaltsloch zu stopfen, geschweige denn zusätzliche Ausgaben zu finanzieren.

Vor diesem Hintergrund lesen sich große Teile des Koalitionsvertrags wie ein Wunschbrief an den Weihnachtsmann. Man hat den Eindruck, dass jede Partei hineinschreiben konnte, was ihr in den Sinn kam, um ihre Wähler an der Nase herumzuführen. Dabei wussten alle, dass die versprochenen Maßnahmen dem Rotstift zum Opfer fallen werden.

So verspricht das erste Kapitel „Bildung, Wissenschaft und Innovation“ großspurig, Thüringen „zum führenden Bildungsland in Deutschland“ zu machen. Hortgebühren sollen abgeschafft, Ganztagesangebote ausgebaut und „ein gesundes, warmes und kostenfreies Mittagessen in Schulen und Kindergärten“ eingeführt werden. Durch die „Einstellung zusätzlicher Lehrerinnen und Lehrer“ soll „die Grundlage für die 100% Unterrichtsabsicherung an allen Schulen“ gewährleistet werden. Zuletzt sind in Thüringen wegen Lehrermangels zehn Prozent des Unterrichts ausgefallen.

Auch Universitäten, Wissenschaft, Kultur und Sport sollen gefördert, die ärztliche Versorgung verbessert und Thüringen durch die Unterstützung von großen und kleinen Unternehmen „als Land der Innovationen und des Wachstums, der guten Arbeit und der guten Löhne“ gestärkt werden. Momentan liegt das mittlere Gehalt für Vollzeitbeschäftigte in Thüringen rund ein Fünftel unter dem Bundesdurchschnitt.

Zur Frage, wie all diese Versprechen aus einem schrumpfenden Haushalt finanziert werden sollen, findet sich im Koalitionsvertrag kein Wort. Doch offensichtlich rechnen die Koalitionäre mit massivem Widerstand, wenn der Schwindel auffliegt. Anders lässt sich das große Gewicht nicht erklären, das sie auf die Stärkung des staatlichen Sicherheitsapparats und das Vorgehen gegen Flüchtlinge legen.

Das Kapitel über Migration ist reine AfD-Politik. Es verspricht „einen Richtungswechsel in der Migrationspolitik“ und zielt darauf ab, die Arbeiterklasse zu spalten, indem Flüchtlinge und Asylsuchende zum Sündenbock für die soziale Krise gemacht und systematisch verfolgt werden. „Durch eine forcierte Auffindung von untergetauchten Ausreisepflichtigen und die Bündelung und Beschleunigung von Klagen in Asylverfahren schaffen wir geordnete und geregelte Prozesse,“ heißt es dazu im Koalitionsvertrag.

„Personen mit geringer Bleibeperspektive“ sollen nicht mehr auf die Kommunen verteilt, sondern „in Gemeinschaftseinrichtungen des Landes“ festgehalten werden. Ausreisepflichtigen Personen sollen keinen Anspruch auf Sozialleistungen in voller Höhe haben, und die Bezahlkarte soll in ganz Thüringen zügig umgesetzt werden. Um alle Maßnahmen effektiver zu bündeln, soll eine zentrale Landesausländerbehörde geschaffen werden.

Der Koalitionsvertrag verspricht, „wir werden die irreguläre Einreise nach Deutschland reduzieren“, und stellt sich uneingeschränkt hinter die Politik der Festung Europa. Er fordert die „Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten, insbesondere um Marokko, Algerien und Tunesien“, „die Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)“ sowie „Asylverfahren an den EU-Außengrenzen“.

Um politischen und sozialen Widerstand zu unterdrücken und Migranten zu jagen und abzuschieben, soll der staatliche Überwachungs- und Repressionsapparat massiv aufgerüstet werden. Neben der Einstellung von 1800 zusätzlichen Polizisten in den nächsten fünf Jahren verspricht der Koalitionsvertrag: „Mit zusätzlichen Fahrzeugen und moderner Ausrüstung, wie unter anderem digitalen Endgeräten, Bodycams, und der Prüfung des Einsatzes von Distanz-Elektroimpulsgeräten sowie einem Pilotprojekt für die Nutzung von Dashcams, werden wir die Thüringer Polizei auf den neuesten Stand bringen.“

Auch der Thüringer Verfassungsschutz soll gestärkt werden. Die Vorgängerregierung unter dem Linken-Politiker Bodo Ramelow hatte ursprünglich versprochen, ihn abzuschaffen, weil er die rechtsextremen Strukturen aufgebaut und finanziert hatte, aus der die Terrorgruppe NSU hervorging, und diese trotz zahlreicher V-Leute jahrelang hatte gewähren lassen. Doch schließlich ließ Ramelow den Inlandsgeheimdienst intakt und tauschte lediglich die Führungsspitze aus.

Nun soll diese rechtsextreme Behörde „personell, organisatorisch und technisch“ aufgerüstet werden, um „handlungsfähig“ zu sein. Der „Einsatz von V-Leuten“ soll ausdrücklich möglich bleiben, der Verfassungsschutz soll außerdem „Zugriff auf die Verkehrsdaten bekannter Extremistinnen und Extremisten“ sowie „die Befugnis zu Online-Durchsuchungen“ erhalten.

„Wir verteidigen unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie gegen alle Bedrohungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch Extremismus, Hass und Hetze, sei es analog oder digital. Wir treten daher allen Formen des Extremismus durch Prävention und Repression entschlossen entgegen,“ heißt es zur Begründung. Das ist eine unverhüllte Drohung gegen jede politische Opposition.

Die Medien hatten ihre Berichterstattung über die Thüringer Koalitionsverhandlungen vor allem auf die Forderung des BSW konzentriert, sich in der Präambel des Koalitionsvertrags vom Ukrainekrieg zu distanzieren. Zeitweise war es darüber zu Konflikten zwischen Wagenknecht und der Thüringer BSW-Vorsitzenden Katja Wolf gekommen, die sich mit einer schwächeren Formulierung zufriedengab.

Doch selbst in dieser Frage hat Wagenknecht ihre Maske fallen lassen. Obwohl es dabei stets nur um eine symbolische Geste ging, da über die Außen- und Militärpolitik von der Bundesregierung entschieden wird, kann von einer Ablehnung des Kriegs oder der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine nicht mehr die Rede sein.

In der Präambel ist jetzt nur noch vom gemeinsamen Wunsch nach einer „diplomatischen Initiative“ die Rede, um „den von Russland gegen die Ukraine entfesselten Angriffskrieg zu beenden“ – eine Formulierung, mit der sich auch der ukrainische Präsident Selenskyj abfinden könnte. Zur Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland, deren Ablehnung das BSW ebenfalls verlangt hatte, heißt es jetzt: „Eine Stationierung und deren Verwendung ohne deutsche Mitsprache sehen wir kritisch.“

Der Koalitionsvertrag selbst bekennt sich uneingeschränkt zu einer starken Bundeswehr: „Wir stehen zur Aufgabe der Bundeswehr, Deutschland und seine Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu schützen. Wir stehen zu den Thüringer Standorten der Bundeswehr. Um ein zukunftsfähiger Standort für die Bundeswehr zu bleiben, wollen wir den Sanierungsstau beenden und notwendige Bauvorhaben schnellstmöglich umsetzen.“

Auch in Brandenburg, wo Koalitionsverhandlungen zwischen der SPD und dem BSW kurz vor dem Abschluss stehen, rückt das BSW von seiner Anti-Kriegsrhetorik ab. Einem Bericht des Tagesspiegel zufolge hat es die Forderung nach einem Ende der Russland-Sanktionen, seine Opposition gegen die Ansiedlung neuer Rüstungsunternehmen und gegen die Internationale Luft- und Raumfahrtaustellung in Schönefeld aufgegeben.

Die Industrie- und Handelskammer Erfurt, der Thüringer Verband der Familienunternehmer und der deutsche Gewerkschaftsbund haben die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU, BSW und SPD begrüßt. Sie werden eng mit der neuen Regierung zusammenarbeiten, um die Sparmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen.

Wagenknecht hat ihre Partei vor weniger als einem Jahr gegründet. Nun zieht sie in zwei Landesregierungen ein. Das ist ein historischer Rekord. Doch ihr Absturz verspricht noch rasanter zu verlaufen. Selten zuvor hat eine Partei so schnell ihr wahres Gesicht gezeigt.

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