15.1. 1953 kam SWP-Führer James P. Cannon in seinem offenen Brief zu dem Schluss: „Der Graben zwischen Pablos Revisionismus und dem orthodoxen Trotzkismus ist so tief, dass weder ein politischer noch ein organisatorischer Kompromiss möglich ist.“[32] Doch die SWP begann schnell, ihren Widerstand gegen den Pablismus abzuschwächen. Schon 1957 antwortete Cannon positiv auf einen Brief von Leslie Goonewardene, in dem er auf die Aussichten einer Vereinigung der SWP mit dem Internationalen Sekretariat einging. Der Grund für diese Wende lag teilweise an der zunehmenden Anpassung der SWP unter dem Druck des Nachkriegsbooms an die radikalen Kreise aus der amerikanischen Mittelschicht.
15.2. Tatsächlich hatte sich die Kluft zwischen orthodoxem Trotzkismus und Pablismus vergrößert, aber die SWP nahm ähnlich opportunistische Positionen an wie das IS. Ende 1960 verherrlichte die SWP, die jetzt von Joseph Hansen geführt wurde, das Regime auf Kuba, das von Fidel Castro und seiner kleinbürgerlichen Guerillabewegung begründet worden war, als „Arbeiterstaat.“ Aufgrund von primitivem Empirismus erklärte die SWP, dass sich der proletarische Charakter des kubanischen Staates aus der Verstaatlichung der größtenteils agrarischen Wirtschaft ergebe. Dabei ignorierte sie die offene Feindschaft des Regimes gegen alle unabhängigen Aktionen der Arbeiterklasse und das Fehlen von Organen der Arbeitermacht. Als Castro die Sowjetunion um Hilfe gegen den US-Imperialismus bat und seine Bewegung des 26. Juli mit den kubanischen Stalinisten zusammenschloss, behauptete die SWP außerdem, die Castristen würden im Verlauf der Revolution zu Marxisten werden. Die Lobeshymnen der SWP auf „die erste erfolgreiche sozialistische Revolution auf dem amerikanischen Kontinent,“ die „den ganzen Prozess der Revolution in den Kolonien auf eine neue Stufe stellt“ und „die Richtigkeit der Theorie der Permanenten Revolution neu bestätigt,“ wurde zum Anknüpfungspunkt an die Pablisten.
15.3. Von 1961 bis 1963 führten die britischen Trotzkisten der Socialist Labour League (SLL) zusammen mit dem Internationalen Komitee einen entschlossenen Kampf gegen den Opportunismus der SWP. Die SLL lehnte die Ansicht der SWP ab, kleinbürgerliche Führungen könnten „durch die Logik der Revolution selbst“ dazu gezwungen werden, die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen. Demgegenüber betonten sie, die Hauptaufgabe der Vierten Internationale sei die Lösung der Krise der proletarischen Führung durch den Aufbau von Parteien wie den Bolschewiki. Nach einer Übersicht über die Kämpfe gegen den Revisionismus kam die SLL 1961 zu dem Schluss: „Es ist Zeit, den Pablismus nicht mehr als Tendenz innerhalb des Trotzkismus zu sehen.“
15.4. In der Frage Kubas arbeitete die SWP mit Pablos und Mandels Methode des Objektivismus. In dem Dokument „Verratener Trotzkismus: Die SWP akzeptiert die politischen Methoden des pablistischen Revisionismus“ vom Juli 1962 erklärte das nationale Komitee der SLL: „Bei unserem Diskussionsaustausch mit der SWP haben wir starke Reaktionen provoziert, als wir anzudeuten wagten, dass es Unsinn sei über ‚eine Bestätigung der Theorie der Permanenten Revolution‘ ohne revolutionäre Parteien zu sprechen. In der Praxis gehen die Pablisten und die SWP jedoch beide vor den kleinbürgerlichen nationalistischen Führern in Kuba und Algerien in die Knie. Unsere Sicht auf diese Frage unterscheidet sich von derjenigen der SWP nicht nur darin, wie wir die Ereignisse erklären. Uns geht es noch mehr um die tatsächliche Politik und das Programm der trotzkistischen Führung in diesen rückständigen Ländern. Die Theorie der Permanenten Revolution ist, wie jede marxistische Theorie, ein Leitfaden zum Handeln; bei der Analyse geht es um das Ziel, eine unabhängige und entschlossene Arbeiterklasse und ihre Verbündeten in der Bauernschaft für die Sowjetmacht zu organisieren. ‚Bestätigung der Theorie der Permanenten Revolution‘ ist keine Auszeichnung, die Marxisten nationalistischen Führern verleihen müssen, sondern eine Aufgabe, für die Marxisten, selbst die Verantwortung tragen.“[33]
15.5. Die SLL bestand weiterhin darauf, dass die von der SWP propagierten Erfolge in Kuba und Algerien als Teil einer Gesamtbilanz des Stalinismus und des kleinbürgerlichen Radikalismus in den Massenkämpfen in rückständigen kapitalistischen Ländern gesehen werden mussten. „Neben Kuba und Algerien – und um diese richtig zu verstehen – müssen auch die Erfahrungen im Irak, Iran, in Ägypten, Indien, Indonesien, Bolivien, Indochina und vielen anderen Ländern berücksichtigt werden. Das Ergebnis einer derartigen historischen Analyse wäre die Antwort auf die Frage, welche Rolle die Führer der Arbeiterklasse, die nach der Zwei-Stufen-Theorie vorgegangen sind, wirklich gespielt haben. Der Stalinismus wurde nicht etwa ‚gezwungen, eine progressive Rolle zu spielen‘, sondern hat die fortgeschrittenen Arbeiter in diesen Ländern entwaffnet und verraten. So konnten bürgerliche Regierungen die Lage kurzfristig stabilisieren – auf mehr kann der Imperialismus derzeit nicht hoffen. In diesem, und nur in diesem Sinne wurde ‚die Theorie der Permanenten Revolution bestätigt‘.“[34]
15.6. Die SLL kritisierte auch die Behauptung der SWP, die Verträge von Evian von 1962 zwischen der französischen Regierung und der Führung der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN), durch die Algerien unabhängig wurde, seien „ein großer Sieg für das algerische Volk und für die Revolution in der arabischen Welt und den Kolonien.“ Die SLL verteidigte die Bewertung derartiger Unabhängigkeitsabkommen in der Nachkriegszeit durch die Vierte Internationale, mit denen die nationale Bourgeoisie die imperialistischen Interessen schützte. Die BLPI hatte diese Frage für Indien und Sri Lanka klar herausgearbeitet. Die SLL erklärte: „Das algerische Kleinbürgertum versucht, den Platz einzunehmen, den bisher der französische Kolonialismus inne hatte, und gleichzeitig ein Garant der grundlegenden Interessen des französischen Kapitals in Nordafrika zu sein. Wir sehen in den Verträgen von Evian die Bereitschaft hierzu, womit die FLN-Führung ihrem Naturell treu bleibt.“[35]
15.7. Ohne weitere Diskussion über die theoretischen und politischen Fragen, die zur Spaltung von 1953 geführt hatten, vereinigten sich die SWP und Gruppen in vielen lateinamerikanischen Ländern, die bisher auf der Seite des IKVI gestanden und zu den amerikanischen Trotzkisten aufgeschaut hatten, im Juni 1963 auf deren siebtem Weltkongress in Rom formell wieder mit den Pablisten. Die Hauptresolution des pablistischen „Weltkongresses“ wies die Theorie der Permanenten Revolution vollkommen zurück und kam zu dem Schluss, die kubanische Revolution habe gezeigt, dass „die Schwäche des Feindes in den rückständigen Ländern die Möglichkeit bietet, auch mit einer stumpfen Waffe an die Macht zu kommen“ – das heißt, ohne eine leninistische Partei, die für die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse kämpft. Die pablistische Verehrung Castros und des „bewaffneten Kampfs“ der Guerilleros sollte sich in Chile, Argentinien, Bolivien und ganz Lateinamerika als verheerende Sackgasse erweisen. Revolutionäre Elemente wurden von der Arbeiterklasse isoliert, was zu historischen Niederlagen führte. Die LSSP-Führung, die in der kapitalistischen SLFP eine „stumpfe Waffe“ für Sri Lanka sah, unterstützte die Vereinigung und die Gründung des Vereinigten Sekretariats. Im Gegenzug lobte die SWP die LSSP als trotzkistische Massenpartei.