„Wir sagen ihr [der Welt] nicht: Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.“ [Karl Marx an Arnold Ruge, September 1843]
„Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ [Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844]
„Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ [Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844]
„Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ [Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, 1844]
„Mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird also der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist.“ [Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, 1844]
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ [Manifest der Kommunistischen Partei, 1847]
„Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ [Manifest der Kommunistischen Partei, 1847]
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1. In dieses Jahr fällt der 200. Geburtstag von Karl Marx – dem Mann, der die materialistische Geschichtsauffassung entwickelt, Das Kapital geschrieben und gemeinsam mit Friedrich Engels die moderne revolutionäre sozialistische Bewegung gegründet hat. Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren, das damals zum Königreich Preußen gehörte. Er war, um mit Lenin zu sprechen, „der Fortführer und geniale Vollender der drei geistigen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts in den drei fortgeschrittensten Ländern der Menschheit: der klassischen deutschen Philosophie, der klassischen englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus in Verbindung mit den französischen revolutionären Lehren überhaupt.“ [1]
2. Marx starb am 14. März 1883 in London im Alter von 64 Jahren. Bis dahin hatten er und Engels die Bestrebungen des utopischen Sozialismus auf eine wissenschaftliche Basis gestellt und die Grundlage für eine revolutionäre politische Bewegung der internationalen Arbeiterklasse geschaffen. In den Jahren 1843 bis 1847 bewirkte Marx eine Revolution des theoretischen Denkens, mit der sowohl die Beschränktheit des vorwiegend mechanischen Materialismus des 18. Jahrhunderts als auch die idealistische Mystifizierung der dialektischen Logik Hegels überwunden wurde.
3. Marx dehnte den philosophischen Materialismus auf die Geschichte und die gesellschaftlichen Beziehungen aus und wies nach, dass sich der Sozialismus mit Notwendigkeit aus der gesetzmäßigen Entfaltung der inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems ergibt. Er erhob keinen Anspruch auf die Entdeckung des Klassenkampfs als Motor der Geschichte. Der Beitrag zum Geschichtsverständnis, mit dem er die Welt verändern sollte, bestand, wie Marx selbst 1852 darlegte, darin, „1) nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2) dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3) dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.” [2]
4. Wenn Marx nach dem Kommunistischen Manifest die Feder aus der Hand gelegt hätte, wäre er allein damit in die Geschichte eingegangen. Doch zur wahrhaft welthistorischen Gestalt wurde er durch sein Werk Das Kapital, in dem er die materialistische Geschichtsauffassung begründete. In den 150 Jahren, die seit der Veröffentlichung des ersten Bands 1867 vergangen sind, haben sich mehrere Generationen bürgerlicher Ökonomen an der Widerlegung des Kapitals abgearbeitet. Vergebens! Sie scheiterten nicht nur an der Kraft der dialektischen Methodik und der historischen Einsichten von Marx, sondern vor allem an der Realität der kapitalistischen Krise. So sehr es den Professoren auch missfällt, die kapitalistische Welt „bewegt sich“, wie Marx erklärte. Jeder Attacke auf Das Kapital folgte mit schöner Regelmäßigkeit ein neuer praktischer Beweis für die unlösbaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Widersprüche des kapitalistischen Systems.
5. Die jüngste solche Lektion, die bis heute fortdauert, setzte mit dem globalen Crash 2008 ein. Die wesentlichen Kategorien und Begriffe der Marxschen politischen Ökonomie – Arbeitskraft, konstantes und variables Kapital, Mehrwert, Fall der Profitrate, Ausbeutung, Warenfetischismus, industrielle Reservearmee, relative und absolute Verelendung des Proletariats – sind unverzichtbar nicht nur für ein wissenschaftliches Verständnis des Kapitalismus, sondern auch für ein elementares Verständnis der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ereignisse des Tages.
6. Man darf für Marx‘ 200. Geburtsjahr zahlreiche akademische Veranstaltungen erwarten, auf denen Professoren in seinen Theorien herumstochern werden. Viele werden sich mit Eifer auf Irrtümer oder Lücken werfen. Andere, eine kleine Minderheit, werden sein Werk loben. Doch die wahrhaftigste und objektivste Würdigung von Marx‘ Leben wird außerhalb der Studierstuben stattfinden.
7. Das Jahr 2018, das Jahr des 200. Geburtstags von Karl Marx, wird in erster Linie durch eine enorme Verschärfung der sozialen Spannungen und durch eine weltweite Zuspitzung des Klassenkampfs gekennzeichnet sein. Seit mehreren Jahrzehnten, insbesondere seit der Auflösung der Sowjetunion 1991, wird der Widerstand der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung niedergehalten. Doch die wesentlichen Widersprüche des kapitalistischen Systems treiben heute rasch auf den Punkt zu, an dem sich die Massenopposition der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus nicht mehr unterdrücken lässt. Diese Widersprüche bestehen zwischen einer global verflochtenen Wirtschaft und dem archaischen bürgerlichen Nationalstaatensystem, zwischen der weltweit vernetzten, Milliarden Arbeiter einbeziehenden gesellschaftlichen Produktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, und zwischen den Grundbedürfnissen der Massengesellschaft und dem eigennützigen Geldscheffeln einzelner Individuen.
8. Die Konzentration des Reichtums in den Händen einer kleinen Gesellschaftsschicht hat historisch beispiellose Ausmaße erreicht. Dabei handelt es sich um einen globalen Prozess. Das reichste 1 Prozent der Weltbevölkerung besitzt die Hälfte des weltweiten Vermögens. [3] Die reichsten 500 Individuen verfügten im Dezember 2017 über ein Vermögen von insgesamt 5,3 Billionen US-Dollar, ein Jahr zuvor war es noch eine Billion weniger gewesen. [4] In den USA haben drei Menschen – Jeff Bezos, Bill Gates und Warren Buffet – zusammen mehr Geld als die untere Hälfte der Bevölkerung zusammengenommen. Die Milliardäre Chinas haben ihren privaten Reichtum 2017 um 177 Milliarden US-Dollar vergrößert. Trotz der von den USA und Westeuropa verhängten Wirtschaftssanktionen verzeichneten die 27 Milliardäre Russlands einen Vermögenszuwachs von 29 Milliarden US-Dollar. Carlos Slim, der reichste Mann Mexikos, mehrte seinen Reichtum um 62,8 Milliarden US-Dollar, eine Steigerung um 12,9 Milliarden gegenüber dem Vorjahr.
9. Diese riesigen Vermögen hängen mit dem rasanten Anstieg der Aktienkurse in den vergangenen 35 Jahren zusammen, insbesondere seit dem Wall-Street-Crash von 2008. Die von der US-Notenbank betriebene Politik der „quantitativen Lockerung“ und die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken weltweit haben den Dow Jones Average in den letzten 10 Jahren um nahezu das Vierfache in die Höhe getrieben. Die explosiven Kurssteigerungen für Wertpapiere in den USA 2017 sind auf die – mittlerweile erfüllte – Erwartung einer massiven Steuersenkung für die Reichen zurückzuführen.
10. Die Bereicherung an der Spitze der kapitalistischen Oligarchie geht einher mit der Verarmung der breiten Masse der Weltbevölkerung. In einem Bericht der Credit Suisse heißt es dazu: „Am anderen Ende des Spektrums besitzen die 3,5 Milliarden ärmsten Erwachsenen jeweils weniger als 10.000 US-Dollar (7600 britische Pfund). Auf diese Menschen, die 70 Prozent der Weltbevölkerung im arbeitsfähigen Alter ausmachen, entfallen gerade einmal 2,7 Prozent des globalen Vermögens.“ [5]
11. Diese groteske Ungleichheit der Vermögensverteilung ist beileibe kein bedauerlicher, aber behebbarer Makel des heutigen Kapitalismus. Sie ist ein unverkennbarer Ausdruck des Bankrotts des bestehenden Gesellschaftssystems. Während es der modernen Massengesellschaft an allen Ecken und Enden am Nötigsten mangelt – Bildung, Wohnraum, Alterspflege, eine universale und hochwertige Gesundheitsversorgung, moderne Massenverkehrssysteme, Schutz des bedrohten globalen Ökosystems usw. – werden unvorstellbare Ressourcen verschleudert, um die obszönen und hirnlosen Launen der Superreichen und ihrer Sprösslinge zu befriedigen. Mittel, die verwendet werden sollten, um Schulen, bezahlbare Wohnungen, Kläranlagen und Krankenhäuser zu bauen oder um Museen, Orchester und andere unverzichtbare kulturelle Einrichtungen zu finanzieren, werden für Villen, Yachten, Juwelen und zahllose andere vulgäre Extravaganzen hinausgeworfen.
12. Die kapitalistischen herrschenden Eliten sind zu einem absoluten Hindernis für die progressive Entwicklung der menschlichen Gesellschaft geworden. Ihre Bereicherungssucht, die alle Poren der Gesellschaft durchdringt, ruft allenthalben Abscheu hervor und kündigt den Sturz des Systems an. Die gegenwärtige Lage ist unvernünftig in genau dem Sinne, in dem Engels den Zustand der französischen Monarchie am Vorabend der Revolution beschrieb, mit der Aristokratie gestürzt werden sollte:
Die französische Monarchie war 1789 so unwirklich geworden, d. h. so aller Notwendigkeit beraubt, so unvernünftig, dass sie vernichtet werden musste durch die große Revolution, von der Hegel stets mit der höchsten Begeisterung spricht. Hier war also die Monarchie das Unwirkliche, die Revolution das Wirkliche. Und so wird im Lauf der Entwicklung alles früher Wirkliche unwirklich, verliert seine Notwendigkeit, sein Existenzrecht, seine Vernünftigkeit; an die Stelle des absterbenden Wirklichen tritt eine neue, lebensfähige Wirklichkeit – friedlich, wenn das Alte verständig genug ist, ohne Sträuben mit Tode abzugehn, gewaltsam, wenn es sich gegen diese Notwendigkeit sperrt. [6]
13. Es bedarf keiner tiefen politischen Einsicht, um vorherzusagen, dass die Konzern- und Finanzoligarchen vor nichts haltmachen werden, um ihren Reichtum zu verteidigen. Da sie es gewohnt sind, der Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen, werden sie jedes Anzeichen von Widerstand der Bevölkerung mit gewaltsamer Unterdrückung beantworten. Doch keines der großen politischen und gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit – Massenarbeitslosigkeit, Armut, soziale Ungleichheit, zunehmende Angriffe auf demokratische Grundrechte, die wachsende Gefahr einer ökologischen Katastrophe, ungezügelter imperialistischer Militarismus und drohender Atomkrieg – kann im Rahmen des Kapitalismus gelöst werden. Allein der ernsthafte Versuch, dringend erforderliche Sozialreformen durchzuführen, würde die Enteignung zumindest der größten Privatvermögen und eine weitreichende Umverteilung des Reichtums voraussetzen. Solange jedoch die Kapitalistenklasse die Staatsmacht innehat, sind solche Reformen unmöglich. Der Kampf der Arbeiterklasse für ihre Interessen mündet, wie Marx vorhersah, in die soziale Revolution.
14. Die Eroberung der Staatsmacht durch die russische Arbeiterklasse im Oktober 1917 bestätigte die materialistische Geschichtsauffassung und die politische Perspektive, die Marx und Engels im Kommunistischen Manifest dargelegt hatten. Doch die Oktoberrevolution war nicht einfach das spontane Ergebnisse eines objektiven historischen Prozesses. Der Sieg der Arbeiterklasse hing von der Führung einer marxistischen Partei ab, die sich auf eine internationale revolutionäre Strategie stützte. Ohne eine solche Führung kann die sozialistische Revolution nicht siegen, wie groß die Krise des kapitalistischen Systems auch sein mag. Auf dem Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale 1920 warnte Lenin die Delegierten, dass es für die herrschende Klasse keine „absolut hoffnungslose“ Lage gibt:
Wollte man von vornherein versuchen, die „absolute“ Ausweglosigkeit zu „beweisen“, so wäre das leere Pedanterie oder ein Spiel mit Begriffen und Worten. Ein wirklicher „Beweis“ in dieser und in ähnlichen Fragen kann nur die Praxis sein. Die bürgerliche Ordnung in der ganzen Welt macht eine ungeheure revolutionäre Krise durch. Wir müssen jetzt durch die Praxis der revolutionären Parteien „beweisen“, dass sie genügend Bewusstheit, Organisiertheit, Verbindung mit den ausgebeuteten Massen, Entschlossenheit und Fähigkeit besitzen, um diese Krise für eine erfolgreiche, für eine siegreiche Revolution auszunutzen. [7]
15. Lenins Mahnung sollte sich auf tragische Weise bewahrheiten. In den Jahren und Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution herrschte kein Mangel an revolutionären Situationen, die der Arbeiterklasse die Möglichkeit zur Machtübernahme boten. Dass der Kapitalismus im 20. Jahrhundert trotz zweier verheerender Weltkriege, Massenaufständen und zahlreicher wirtschaftlicher Krisen oder sogar Zusammenbrüchen überleben konnte, lag letztendlich daran, dass der Arbeiterklasse die notwendige revolutionäre Führung fehlte.
16. Die Parteien der Zweiten Internationale wechselten mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs auf die Seite des Imperialismus, übernahmen das Programm der „Vaterlandsverteidigung“ und verrieten nach dem Krieg den revolutionären Aufschwung der Arbeiterklasse. Die Dritte Internationale wurde durch die stalinistische Bürokratie zerstört, die sich innerhalb der Sowjetunion herausbildete. Unter dem stalinistischen Programm des „Sozialismus in einem Land“, das 1924 ausgerufen wurde, ordnete die Bürokratie die Dritte Internationale den nationalen Interessen der Sowjetstaats unter, so wie sie diese verstand.
17. Die Verwandlung der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien in politische Agenturen des Imperialismus hatte in den 1920er und 1930er Jahren furchtbare Niederlagen der Arbeiterklasse zur Folge. Am schlimmsten waren die Auslöschung der Kommunistischen Partei Chinas 1927, der Sieg der Nationalsozialisten und die Zerschlagung der sozialistischen Bewegung 1933 in Deutschland und der Verrat an der spanischen Revolution 1934-1936, der dem faschistischen Franco-Regime den Weg ebnete.
18. Im Jahr 1938 gründete Leo Trotzki die Vierte Internationale. Es war der Höhepunkt des politischen Kampfs, den er seit 1923 gegen das stalinistische Regime geführt hatte: gegen die nationalistische Perversion des Sozialismus, die Unterdrückung der Arbeiterdemokratie und das Abrücken vom Programm der sozialistischen Weltrevolution. Im Gründungsprogramm der neuen Internationale bezeichnete Trotzki die „Krise der revolutionären Führung“ als das zentrale Problem des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.
19. Heute, 80 Jahre später, befindet sich das kapitalistische System erneut in einer eskalierenden globalen Krise, und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse nimmt zu. Nun stellt sich die Frage: Wie steht es um die Aussichten, die Krise der revolutionären Führung zu lösen? Kann es der Vierten Internationale gelingen, die fortgeschrittensten Teile der Arbeiterklasse, gesellschaftlich bewusste Jugendliche und die progressivsten Intellektuellen zu gewinnen und die Massenkämpfe der Arbeiterklasse in der sozialistischen Weltrevolution zum Sieg zu führen?
20. Um diese Frage zu beantworten, muss das Problem der Führung in einem breiteren historischen Zusammenhang betrachtet werden.
21. In diesem Jahr steht ein weiteres Jubiläum an: der 50. Jahrestag der Ereignisse vom Mai-Juni 1968, dem Generalstreik, mit dem die Massen Frankreich an den Rand einer sozialistischen Revolution brachten. Die Ereignisse von 1968 klingen bis heute nach: Neben den Massenprotesten und dem Generalstreik in Frankreich war es das Jahr der Tet-Offensive in Vietnam, einer extremen Instabilität in den USA (ausgedrückt in zwei politischen Attentaten und in Unruhen in amerikanischen Großstädten) und des antistalinistischen Prager Frühlings in der Tschechoslowakei, der im August durch die bewaffnete Intervention der UdSSR und des Warschauer Pakts niedergeschlagen wurde.
22. Die Ereignisse von 1968 lösten eine weltweite Radikalisierung der Arbeiterklasse aus. Die Zeit von 1968 bis 1975 war durch die größte internationale revolutionäre Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet, mit Streikwellen in Italien, Deutschland, Großbritannien, Argentinien und den USA. Zum ersten Mal seit dem Sieg der Hitlerfaschisten übernahmen in Deutschland die Sozialdemokraten die Regierung. Im September 1970 kam in Chile die Allende-Regierung an die Macht. Im Winter 1973-1974 erzwangen die Bergarbeiter in Großbritannien mit ihrem Streik den Rücktritt der rechtsgerichteten Tory-Regierung. Im Juli 1974 wurde die griechische Militärjunta gestürzt. Im August 1974 kam Richard Nixon der Amtsenthebung durch seinen Rücktritt als Präsident zuvor. Im April 1975 brach in Portugal das faschistische Regime zusammen, das seit 1926 an der Macht gewesen war. Mit dem Tod Francos im November 1975 kam die Brüchigkeit nicht nur der alten Diktatur, sondern auch der kapitalistischen Herrschaft in Spanien zum Vorschein. Der gesamte Nahe Osten und Afrika wurden von starken antiimperialistischen Bewegungen erfasst.
23. Doch trotz der internationalen Dimensionen dieser Massenkämpfe hatte das kapitalistische System nicht nur Bestand, sondern konnte ihnen auch Niederlagen beibringen (wie den Sturz der Allende-Regierung 1973 in Chile) und die Grundlagen für eine Gegenoffensive gegen die Arbeiterklasse schaffen. Dies setzte in den späten 1970er Jahren mit der Regierungsübernahme von Margaret Thatcher ein (gefolgt kurz darauf von der Wahl Ronald Reagans).
24. Sein Überleben inmitten der globalen Unruhen von 1968 bis 1975 verdankte der Kapitalismus in erster Linie dem Umstand, dass die damaligen Massenbewegungen der Arbeiterklasse noch von den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften dominiert wurden. Ihre Mitglieder zählten nach Millionen, und sie benutzten ihre bürokratische Macht, um die Kämpfe der Arbeiterklasse zu zügeln, auf Abwege zu führen, zu untergraben und, wenn notwendig, direkt in Niederlagen zu manövrieren. Das stalinistische Regime in der Sowjetunion und das maoistische Regime in China verfälschten systematisch den Marxismus und setzten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein, um die revolutionären Bewegungen zu unterlaufen, die ihren Bemühungen um verbesserte Beziehungen zu den USA und anderen imperialistischen Mächten im Wege standen. Innerhalb der weniger entwickelten Länder waren die stalinistischen und maoistischen Regime bestrebt, den Einfluss diverser bürgerlich-nationaler Bewegungen über die Arbeiterklasse zu festigen und so den Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus zu untergraben.
25. In dieser entscheidenden Periode kämpfte das Internationale Komitee der Vierten Internationale gegen den politischen Einfluss des Stalinismus, der Sozialdemokratie und des bürgerlichen Nationalismus. Allerdings führte es diesen Kampf unter Bedingungen einer extremen Isolation, die ihm nicht nur durch die großen bürokratischen Organisationen der Sozialdemokraten und Stalinisten aufgezwungen wurde, sondern auch durch die üble politische Rolle der opportunistischen Organisationen, die in den 1950er und frühen 1960er Jahren mit dem Trotzkismus gebrochen hatten.
26. Die pablistischen Organisationen (benannt nach Pablo, dem Hauptvertreter des antitrotzkistischen Revisionismus) wandten sich insbesondere gegen die Notwendigkeit, unabhängige revolutionäre Parteien der Arbeiterklasse aufzubauen, die sich auf das Programm der Vierten Internationale stützten. Michel Pablo und sein wichtigster politischer Verbündeter, Ernest Mandel, wiesen Trotzkis Charakterisierung der stalinistischen Bürokratie als konterrevolutionär zurück. Sie argumentierten, dass die Sowjetbürokratie unter dem Druck der objektiven Ereignisse und der spontanen Bewegung der Massen zu revolutionären Maßnahmen gezwungen werden könnte. Entsprechend sollten auch die Sozialdemokraten und bürgerlichen Nationalisten unter dem Druck der objektiven Ereignisse dazu getrieben werden, eine revolutionäre Rolle zu spielen.
27. Aus diesen weitreichenden Revisionen des Trotzkismus ergab sich die Schlussfolgerung, dass der Aufbau der Vierten Internationale überflüssig war. Die Pablisten suchten und verherrlichten zahllose „Alternativen“ zum Trotzkismus, beispielsweise Castro in Kuba und Ben Bella in Algerien. Wegen ihrer Weigerung, die politische Liquidierung der Vierten Internationale hinzunehmen, wurden die Anhänger des Internationalen Komitees von den Pablisten als „ultralinke Sektierer“ beschimpft.
28. Vor 50 Jahren verfügten die Sozialdemokraten, die Maoisten und verschiedene Formen des bürgerlichen Nationalismus über enormen Einfluss auf die Arbeiterklasse und die antiimperialistischen Massenbewegungen. Doch was ist heute von diesen Organisationen geblieben?
29. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, und das globale Netzwerk der stalinistischen Parteien ist weitgehend verschwunden. Die Kommunistische Partei Chinas ist die Staatspartei der kapitalistischen herrschenden Klasse. Die sozialdemokratischen Parteien sind praktisch nicht mehr von den bürgerlichen Parteien der äußersten Rechten zu unterscheiden. Nirgendwo werden sie von den Arbeitern als Vertreter ihrer Interessen betrachtet. Jene Sozialdemokraten, die sich durch eine linke Pose einen letzten Rest Glaubwürdigkeit bewahren möchten (Corbyn in Großbritannien), werden als Betrüger entlarvt, sobald sie an die Hebel der politischen Macht gelangen, wie man in Griechenland sehen konnte.
30. Was die bürgerlich-nationalistischen Bewegungen anbelangt, so haben sich ihre antiimperialistischen und antikapitalistische Ansprüche in Luft aufgelöst. Mit dem Aufstieg des Afrikanischen Nationalkongresses zur Regierungspartei Südafrikas, die skrupellos die Interessen der Reichen schützt und streikende Arbeiter niederschießt, stellt der bürgerliche Nationalismus die Quintessenz seiner historischen Entwicklungstendenzen und seines Klassencharakters zur Schau.
31. Auch die pablistischen Organisationen haben sich zusammen mit den diversen Bewegungen der Pseudolinken in das bürgerliche politische Establishment integriert. Am klarsten zeigt sich dies in der Regierungsübernahme von Syriza (Koalition der radikalen Linken) in Griechenland, die nun auf Geheiß der europäischen Banken Sozialkürzungen verhängt und Flüchtlinge diskriminiert.
32. Die Ursache für den politischen Verfall und Niedergang dieser Organisationen liegt im tief verwurzelten Widerspruch zwischen ihren provinziellen nationalreformistischen Programmen und der Entwicklung des Kapitalismus als global integriertem Wirtschaftssystem.
33. Die Gemeinsamkeit der Stalinisten, Maoisten, Sozialdemokraten, bürgerlichen Nationalisten und pablistischen Opportunisten liegt in der Abhängigkeit ihrer Programme von der Möglichkeit, innerhalb des wirtschaftlichen Rahmens des Nationalstaats Reformen herbeizuführen. Die beschleunigte Globalisierung der Wirtschaft in den 1980er Jahren ließ Programm und Perspektiven dieser national verwurzelten Organisationen völlig untauglich werden.
34. Das Potenzial für die Lösung der Führungskrise in der Arbeiterklasse liegt darin, das Programm des Internationalen Komitees der Vierten Internationale mit der objektiven Entwicklung der globalen Wirtschaft und der internationalen Entfaltung des Klassenkampf in Einklang zu bringen. Dies bildet die reale Grundlage der durchgreifenden Veränderung, die sich seit 1968 im politischen Kräfteverhältnis zwischen dem Trotzkismus, vertreten durch das Internationale Komitee der Vierten Internationale, und allen Vertretern des Antimarxismus und der Pseudolinken vollzogen hat.
35. Vor 30 Jahren, nach dem Ausschluss der letzten Überbleibsel des pablistischen Opportunismus aus der Vierten Internationale, erarbeitete das Internationale Komitee die Analyse der Weltpolitik, die seine Arbeit in den darauf folgenden Jahrzehnten anleitete. Im Perspektivdokument von 1988 wurde betont, dass revolutionäre Parteien der Arbeiterklasse nur auf der Grundlage eines internationalen Programms aufgebaut werden können, das den objektiven Entwicklungstendenzen des Kapitalismus entspricht. „Die massive Entwicklung transnationaler Konzerne und die sich daraus ergebende globale Integration der kapitalistischen Produktion“, heißt es darin, „haben dazu geführt, dass die Bedingungen, denen sich die Arbeiter der Welt gegenübersehen, einander gleichen wie nie zuvor.“ [8]
36. Aus dieser Analyse zog das Internationale Komitee folgende strategische Schlussfolgerung:
Es ist schon immer eine Grundaussage des Marxismus gewesen, dass der Klassenkampf nur der Form nach national, seinem Wesen nach aber international ist. Unter den gegebenen neuen Merkmalen der kapitalistischen Entwicklung muss jedoch auch die Form des Klassenkampf einen internationalen Charakter annehmen. Selbst die elementarsten Kämpfe der Arbeiterklasse verlangen die Koordinierung ihrer Aktionen in internationalem Maßstab. [9]
37. Auf dem 13. Kongress der Workers League (Vorläuferorganisation der Socialist Equality Party in den USA) im August 1988 wurden die praktischen Implikationen dieser Analyse folgendermaßen erklärt:
Die Suche nach nationalen Lösungen für die internationale Krise führt unvermeidlich zur Unterordnung jeder nationalen Arbeiterorganisation unter die Handelskriegspolitik der Bourgeoisie. Aus dieser Sackgasse gibt es keinen Ausweg außer den revolutionären Internationalismus, und das ist für uns keine Sonntagsrede. Die höchste strategische Aufgabe der trotzkistischen Bewegung besteht in der Vereinigung der Arbeiterklasse der ganzen Welt zu einer, wie Trotzki einmal sagte, „einzigen internationalen proletarischen Organisation der revolutionären Aktion mit einem Weltzentrum und einer politischen Weltperspektive“.
Wir fassen das nicht als einer Art utopische Mission auf. Unsere wissenschaftliche Analyse der Epoche und der Charakter der gegenwärtigen Weltkrise überzeugen uns nicht nur davon, dass diese Vereinigung möglich ist, sondern auch davon, dass nur eine Partei, deren tagtägliche Arbeit auf dieser strategischen Orientierung beruht, sich in der Arbeiterklasse verankern kann. Wir gehen davon aus, dass sich das nächste Stadium proletarischer Kämpfe unter dem gemeinsamen Druck der objektiven ökonomischen Tendenzen und des subjektiven Einflusses der Marxisten unvermeidlich in eine internationalistische Richtung entwickeln wird. Das Proletariat wird mehr und mehr dahin tendieren, sich selbst in der Praxis als internationale Klasse zu definieren, und die marxistischen Internationalisten, deren Politik der Ausdruck dieser organischen Tendenz ist, werden diesen Prozess fördern und ihm eine bewusste Form geben. [10]
38. Auf der Grundlage dieser Analyse nahm das Internationale Komitee weitreichende Veränderungen seiner organisatorischen und praktischen Arbeit vor. Bis 1995 hatten die Sektionen des Internationalen Komitees die Form von Bünden gehabt. Im Juni 1995 gründete die Workers League in den USA die Socialist Equality Party. Mit dieser Änderung der Organisationsform wurde zum Ausdruck gebracht, dass sich inmitten der Krise und dem Zusammenbruch der alten bürokratischen Massenorganisationen eine neue Beziehung zwischen der revolutionären marxistischen Tendenz und der Arbeiterklasse herausbildete. Mit der Wahl des Namens für die neue Partei wurde der Kampf für Gleichheit als das große Ziel des Sozialismus benannt und die Auflehnung der Bevölkerung gegen die Ungleichheit im Kapitalismus vorweggenommen. In den darauf folgenden Monaten vollzogen alle Sektionen des Internationalen Komitees dieselbe politische Reorganisation. Nach der Umwandlung der vormaligen Bünde in Parteien führte das Internationale Komitee eine neue Form der politischen Arbeit ein. Dabei nutzte es die Kommunikationstechnologie im Zuge der Entstehung des Internets. Die Gründung der World Socialist Web Site vor nahezu exakt 20 Jahren, im Februar 1998, war eine wahrhaft revolutionäre politische Initiative. Wie das Internationale Komitee erklärte:
Wir sind zuversichtlich, dass die WSWS zu einem einmaligen Instrument für die politische Aufklärung und Vereinigung der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene werden wird. Sie wird den arbeitenden Menschen in verschiedenen Ländern helfen, ihre Kämpfe gegen das Kapital zu koordinieren, genau wie die transnationalen Konzerne ihren Krieg gegen die Arbeiter grenzübergreifend organisieren. Sie wird die Diskussion zwischen Arbeitern aller Länder erleichtern und ihnen ermöglichen, ihre Erfahrungen zu vergleichen und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.
Das IKVI rechnet damit, dass die World Socialist Web Site mit der Ausbreitung des Internets weltweit ein wachsendes Publikum finden wird. Als schnelle und globale Kommunikationsform hat das Internet enorme demokratische und revolutionäre Implikationen. Es kann einem Massenpublikum Zugang zu den geistigen Ressourcen der Welt verschaffen, von Bibliotheken und Archiven bis hin zu Museen. [11]
39. Das tägliche Erscheinen der World Socialist Web Site über einen Zeitraum von 20 Jahren ist nach allen objektiven Maßstäben eine außerordentliche politische Leistung. Die Fähigkeit, die Publikation über einen so langen Zeitraum aufrecht zu erhalten, ohne einen einzigen geplanten Erscheinungstag zu versäumen, zeugt von der theoretischen und politischen Klarheit des Kaders des Internationalen Komitees und von seiner beachtlichen organisatorischen Geschlossenheit und Stärke. Keine andere Publikation der Welt kommt auch nur im Entferntesten der World Socialist Web Site gleich. Sie ist nicht nur die einzige sozialistische Publikation, in der die wichtigsten Tagesereignisse festgehalten, analysiert und kommentiert werden, sondern auch Strategieplattform und Tribüne der kämpfenden Arbeiterklasse.
40. Im vergangenen Jahr hat Google versucht, die World Socialist Web Site auf eine schwarze Liste zu setzen und zu zensieren. Diese Bemühungen sind am Scheitern. Die Leserschaft der WSWS nimmt weiterhin zu. Die im Entstehen begriffene Bewegung der Arbeiterklasse und der Jugend verleiht ihr Kraft.
41. Das Vergangene ist der Prologus. Die gesamte theoretische, politische und praktische Arbeit des Internationalen Komitees war die Vorbereitung auf die Wiederkehr des internationalen Klassenkampfs. Unsere vorrangige Aufgabe besteht nun darin, systematisch, bewusst und angriffslustig eine revolutionäre Führung aufzubauen. Davon hängt es ab, ob das Grundproblem der Menschheit – Sozialismus oder Barbarei – eine fortschrittliche Lösung findet. Wir stehen 2018 vor der Herausforderung, die Arbeit des Internationalen Komitees der Vierten Internationale auszuweiten, es unter Arbeitern und Jugendlichen, die den Kampf aufnehmen, bekannt zu machen, neue Kräfte für das Programm der sozialistischen Weltrevolution zu gewinnen und ihnen die Geschichte und die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus zu vermitteln. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale begeht Marx‘ 200. Geburtstag unter dem Motto seiner berühmtesten Maxime:
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
David North
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Anmerkungen:
[1] Wladimir I. Lenin, „Karl Marx. Kurzer biographischer Abriss…“, in: Werke, Band 21, Berlin 1960, S. 38.
[2] Karl Marx, Brief an Joseph Weydemeyer, 5. März 1852, in: Marx Engels Werke (MEW), Berlin 1953 ff., Band 28, S. 507–508.
[3] „Richest 1% own half the world’s wealth, study finds“, in: https://www.theguardian.com/inequality/2017/nov/14/worlds-richest-wealth-credit-suisse
[4] „World’s Wealthiest Became $1 Trillion Richer in 2017“ in: Bloomberg, https://www.bloomberg.com/news/articles/2017-12-27/world-s-wealthiest-gain-1-trillion-in-17-on-market-exuberance
[5] https://www.theguardian.com/inequality/2017/nov/14/worlds-richest-wealth-credit-suisse
[6] Friedrich Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, Marx Engels Werke, Band 21, Berlin 1975, S. 266.
[7] Wladimir I. Lenin, Werke Band 31, Berlin 1959, S. 215.
[8] Die kapitalistische Weltkrise und die Aufgaben der Vierten Internationale: Perspektiven des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, Essen 1988, S. 7.
[9] Ebd.
[10] „Dreizehnter Kongress der Workers League“, Bericht von David North, Vierte Internationale, Jg. 15, Nr. 3-4, Juli-Dezember 1988, S. 42.
[11] https://www.wsws.org/en/special/about.html