Rund 20.000 Teilnehmer versammelten sich am Samstag laut Polizeiangaben in Berlin, um gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu protestieren. Das Ganze war ein abgekartetes Spiel und folgte einem Drehbuch, das man spätestens seit den Pegida-Demonstrationen vor fünf Jahren kennt.
Rechtsextreme Drahtzieher mit engen Verbindungen zu Verfassungsschutz, Polizei und AfD rufen zu Protesten auf und mobilisieren eine bunte Mischung aus Verwirrten, Frustrierten und Esoterikern. Politik und Medien blasen die Sache auf, erheben sich moralisch über die dumpfen Parolen der Demonstranten und erklären gleichzeitig, es handle sich um „besorgte Bürger“, deren Anliegen man „ernst nehmen“ müsse. Auf diese Weise lenken sie von ihrer eigenen reaktionären Politik ab und drehen das Steuer weiter nach rechts.
Die Pegida-Demonstrationen wurden auf diese Weise benutzt, um die Willkommenskultur zu sabotieren, mit der breite Bevölkerungsschichten die Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsländern im Nahen Osten und Nordafrika begrüßten, und um alle einzuschüchtern, die sich weiterhin für Flüchtlinge engagierten.
Journalisten schrieben sich die Finger wund, um zu beweisen, dass es – in den Worten des rechtsextremen Historikers Jörg Baberowski – „überall da, wo viele Menschen aus fremden Kontexten kommen“ und die Bevölkerung nicht eingebunden wird, „natürlich zu Aggressionen“ kommt. Nach dieser Logik waren die Flüchtlinge, also seine Opfer, verantwortlich für das Anwachsen des Rechtsextremismus.
Nach demselben Schema verlief die Corona-Demonstration in Berlin. Die Drahtzieher waren teilweise dieselben wie bei Pegida. Neonazis, Reichsbürger, Anhänger der AfD, der NPD und der verschwörungsideologischen QAnon-Bewegung karrten Teilnehmer aus ganz Deutschland nach Berlin. Zu ihnen gesellten sich Impfgegner, Coronaleugner, Esoteriker, Wutbürger und Mitglieder der Berliner Partyszene.
Die Polizei schaute ruhig zu, wie die Teilnehmer Abstandregeln und Maskenpflicht missachteten, Reichsfahnen schwenkten und verfassungswidrige Symbole zeigten. Im Gegensatz zu den Hamburger G20-Protesten oder den jüngsten Demonstrationen gegen den Mord an George Floyd, wo der geringste Anlass zum Einsatz von Pfefferspray und Wasserwerfern führte, war zum Teil auf Hunderte Meter kein einziger Polizist zu sehen. Erst eine halbe Stunde nach Beginn der Abschlusskundgebung erklärte die Polizei diese wegen Nichteinhaltung der Hygieneregeln offiziell für beendet, unternahm aber keine Anstalten, sie aufzulösen.
In Politik und Medien war hinterher die Empörung über die Nichteinhaltung der Hygieneregeln groß. Demonstrationen müssten auch in Corona-Zeiten möglich sein. „Aber nicht so“, twitterte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärte, ihr fehle jedes Verständnis für Demonstranten, die sich selbstherrlich über Auflagen zum Corona-Schutz hinwegsetzten. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) forderte härtere Strafen: „Wer andere absichtlich gefährdet, muss damit rechnen, dass dies für ihn gravierende Folgen hat.“ Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken schimpfte über „Covididioten“.
Die Empörung dient dazu, von der eigenen kriminellen Politik abzulenken, im Vergleich zu der sich das asoziale Verhalten der Demonstrationsteilnehmer wie ein Bagatelldelikt ausnimmt. Die Bundes- und die Länderregierungen, in denen von der Linken über CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP alle Parteien vertreten sind, verfolgen eine Öffnungspolitik, die hunderttausende Menschenleben aufs Spiel setzt.
Während sich die weltweite Zahl der Infizierten der 20-Millionen-Marke und die der Todesopfer der 700.000-Marke nähert, steigt die Zahl der Fälle auch in Deutschland wieder deutlich an. Nun kommen zigtausende Urlaubsrückkehrer hinzu, die durch die Aufhebung der Reisewarnungen zu Auslandsreisen ermutigt wurden. Auf den nordrhein-westfälischen Flughäfen, wo sich knapp die Hälfte der Rückkehrer freiwillig auf Corona testen ließ, haben sich 2,5 Prozent als positiv erwiesen – ein extrem hoher Wert.
Trotzdem nehmen die Schulen in allen Bundesländern, angefangen mit Mecklenburg-Vorpommern in der kommenden Woche, wieder den Vollbetrieb auf. Dabei ist inzwischen bewiesen, dass Schulen mit ihren beengenden Klassenräumen und ihrer heruntergekommenen Infrastruktur eine ideale Umgebung für Masseninfektionen sind.
Die Wiener Forschergruppe Complexity Science Hub, die Corona-Daten aus 76 Regionen statistisch ausgewertet hat, gelangt zum Schluss, dass die Schließung von Schulen, Kindergärten und Unis ein „extrem wirksames Mittel“ zur Einschränkung von Infektionen war. In den USA haben Schulschließungen laut einer Analyse, die im Journal of the American Medical Association erschien, mehr als 40.000 Menschen das Leben gerettet und 1,3 Millionen Ansteckungen verhindert.
Umgekehrt zeigt eine Studie der Technische Universität Berlin, dass die für eine Übertragung kritische Aerosolkonzentration in der Luft eines Klassenzimmers nach zwei Minuten erreicht ist, wenn eine einzige infizierte Person im Raum hustet. Trotzdem nehmen die Schulen wieder den vollen Betrieb auf.
Die Hygienemaßnahmen, die dafür vorgesehen sind und die sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden, sind nicht der Rede wert. So gilt die Maskenpflicht, für die sich Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) nach anfänglicher Ablehnung nun einsetzt, nur vom Schultor zum Klassenraum, nicht aber im Klassenraum selbst, wo die Ansteckungsgefahr am höchsten ist.
Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) schätzt die Infektionsgefahr in einem gefüllten Klassenraum, in dem der Mindestabstand nicht eingehalten wird, als hoch ein. Das geht aus einem Schreiben hervor, dass der Rheinischen Post vorliegt. Die Voraussetzungen dafür, diesen Abstand in Klassenräumen einzuhalten, sind so gut wie nirgendwo gegeben.
Das RKI warnt auch vor Studien, die Kindern eine deutlich höhere Resistenz gegen Infektionen mit dem Coronavirus zuschreiben. Es könnte gut sein, dass die behauptete Widerstandsfähigkeit von Kindern lediglich darauf zurückzuführen sei, dass sie während der Kita- und Schulschließungen weniger Sozialkontakte hatten, schreibt das RKI auf seiner Website.
Die Medien bemühen sich inzwischen, die von rechten Drahtziehern inszenierte Berliner Demonstration als Ausdruck einer breiten Stimmung in der Bevölkerung darzustellen. So behauptet die Süddeutsche Zeitung in ihrem Leitkommentar vom Montag, wenn in Berlin eine fünfstellige Anzahl von Menschen auf die Straße gegangen sei, müsse „man befürchten, dass zum Ausdruck gebracht wurde, was Hunderttausende umtreibt; mindestens“.
Meinungsumfragen beweisen das Gegenteil. Eine aktuelle Erhebung, die das Meinungsforschungsinstitut Civey für den Tagesspiegel erstellt hat, gelangt zum Schluss, dass 77 Prozent der Befragten eine Verschärfung der Kontaktbeschränkungen akzeptieren würden, falls die Infektionszahlen wieder stark ansteigen. Nur gut 20 Prozent sprachen sich dagegen aus. Ebenfalls 77 Prozent rechnen laut dem aktuellen Politbarometer damit, dass es demnächst zu einer zweiten Welle an Coronavirus-Infektionen kommt.
Der Druck, die Kontaktbeschränkungen aufzuheben und die Schulen zu öffnen, kommt nicht aus der Bevölkerung, sondern aus der Wirtschaft und von ihren Handlangern in Medien und Politik. Nachdem die Regierung hunderte Milliarden Euro an die Konzerne und Banken überwiesen hat, um ihre Profite und die Vermögen der Reichen zu garantieren, drängt sie darauf, diese Summen wieder aus der Arbeiterklasse herauszupressen. Die Öffnung der Schulen ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Eltern dem Arbeitsmarkt wieder voll zur Verfügung stehen und arbeiten können. Der Profit wird so über das Leben von Millionen Kindern und ihren Angehörigen gestellt.
Die Neonazis und Rechtsextremen, die auf der Berliner Demonstration den Ton angaben, werden gezielt eingesetzt, um das nötige politische Klima dafür zu schaffen. Sie sind aufs engste mit dem Staatsapparat verbunden, wie man spätestens seit den NSU-Morden, dem Lübcke-Mord und der Entlarvung rechtsterroristischer Netzwerke in Bundeswehr und Polizei weiß.
Der Schutz von Gesundheit und Leben gegen die Auswirkungen der Corona-Pandemie ist vorrangig eine politische Aufgabe. Er ist nur möglich auf der Grundlage eines sozialistischen Programms, das die menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse über die Profitansprüche des Kapitals stellt.
Nur in diesem Rahmen lassen sich auch die dringenden Probleme von Bildung und Erziehung lösen. Ein Unterricht unter Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen ist durchaus möglich. Aber das setzt voraus, dass große Summen, die jetzt auf die Konten der Reichen fließen, in die Sanierung maroder Schulen, die Anmietung zusätzlicher Räume, den Kauf von Computern und IT-Technologie, die Beschäftigung von Tutoren, die kleine Gruppen betreuen, usw. gesteckt werden.
An entsprechenden Ideen und Initiativen von engagierten Lehrern und Eltern mangelt es nicht. Aber sie werden entweder aus Kostengründen abgewiesen oder mit bürokratischen Mitteln blockiert.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) tritt dafür ein, Aktionskomitees in den Bildungseinrichtungen und Wohnvierteln aufzubauen, die unabhängig von den Gewerkschaften und etablierten Parteien sind. So kann der Widerstand gegen die lebensgefährdende Öffnungspolitik koordiniert werden.
Auch in den Betrieben, den Krankenhäusern, dem Transportwesen und dem öffentlichen Dienst entwickelt sich auf der ganzen Welt der Widerstand gegen ein System, das jeden Bereich des Lebens den Profitinteressen der Kapitalbesitzer unterordnet. Die SGP und ihre Schwesterparteien im Internationalen Komitee der Vierten Internationale kämpfen dafür, eine breite sozialistische Massenbewegung aufzubauen.