Am Donnerstag verhandelte das Verwaltungsgericht Berlin über die Klage der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) gegen das Bundesinnenministerium. Die SGP focht die Entscheidung des Verfassungsschutzes an, sie als „linksextremistische“ Organisation einzustufen.
Das Gericht fällte eine Entscheidung, die sich explizit auf die Behauptung stützt, die Forderung der SGP „nach einer egalitären, demokratischen und sozialistischen Gesellschaft“ verstoße gegen das Grundgesetz. Auch Opposition gegen den bestehenden Staat und Kritik am kapitalistischen System seien verfassungswidrig und rechtfertigten die Einstufung der Partei als extremistische Organisation und ihre strenge Überwachung. Die marxistische Klassenanalyse der Gesellschaft sowie die Ablehnung des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln bezeichnete das Gericht ebenfalls als verfassungsfeindlich.
Gestützt auf diese weitreichende Entscheidung können auch der Verkauf, die Verbreitung und die Lektüre marxistischer und sozialistischer Literatur für verfassungswidrig erklärt werden. Das Bundesinnenministerium führt in seinem Schriftsatz als Beweis für den „Extremismus“ der SGP die Verbreitung marxistischer Literatur an, darunter der Schriften von David North, dem Vorsitzenden der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site.
Der stellvertretende Vorsitzende der SGP, Christoph Vandreier, trug zu Beginn der Verhandlung eine Erklärung vor, die wir hier im Wortlaut veröffentlichen. Er warnte davor, dass die herrschende Klasse angesichts zunehmender Arbeitskämpfe und der wachsenden Popularität des Sozialismus zu diktatorischen Maßnahmen greift – und das nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt.
Das Urteil des Gerichts hat Vandreiers Warnung bestätigt. Es stellte sich voll hinter die antidemokratische Argumentation des Innenministeriums. Es wies die Klage der SGP ab und verurteilte die Partei zur Zahlung der Gerichtskosten. Die SGP wird gegen diese Entscheidung Berufung einlegen und Widerstand gegen die rechtsextreme Gefahr und den Angriff auf den Sozialismus mobilisieren. Diese wichtige Erklärung muss sorgfältig gelesen und weit verbreitet werden.
Herr Vorsitzender, ich möchte kurz begründen, weshalb wir die Klage eingereicht haben und weshalb wir denken, dass sie von größter Bedeutung ist. 76 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur versucht das Bundesinnenministerium, sozialistische Ideen und linke Positionen für verfassungsfeindlich zu erklären.
Die Sozialistische Gleichheitspartei streitet in der Tradition des revolutionären Marxismus dafür, die Mehrheit der Bevölkerung für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu gewinnen. Wir verteidigen die demokratischen Grundrechte und treten dafür ein, sie endlich vollständig zur Geltung zu bringen, indem der Privatbesitz an den Produktionsmitteln abgeschafft und die Wirtschaft demokratisiert wird.
Es sind gerade die Auswüchse des Kapitalismus, die schreiende soziale Ungleichheit, der wachsende Militarismus und die brutale „Profite vor Leben“-Politik in der Pandemie, die überall auf der Welt autoritäre und rechtsextreme Kräfte stärken.
Der Putschversuch von Donald Trump am 6. Januar, die Putschvorbereitungen von Jair Bolsenaro in Brasilien und die rechte Verschwörung im spanischen Militär zeigen, dass die herrschende Klasse überall auf autoritäre Methoden setzt, um diese Politik gegen den wachsenden Widerstand durchzusetzen.
Auch hier in Deutschland, dem Land der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, ist diese Entwicklung weit fortgeschritten. Die rechtsextreme AfD wurde voll in die parlamentarische Arbeit integriert und ihr Programm von Massendeportationen Geflüchteter, der Durchseuchung der Bevölkerung und der Aufrüstung des Staatsapparats in weiten Teilen von sämtlichen Parteien in die Tat umgesetzt. In Polizei, Geheimdiensten und Armee sind rechtsextreme Terrornetzwerke aktiv, die Waffen horten, Feindeslisten erstellen und darauf hinarbeiten, an einem Tag X tausende politische Gegner zu massakrieren. Die Terroranschläge von Halle und Hanau und der Mord an Walter Lübcke sind sehr ernste Warnungen.
In dieser Situation geht der Verfassungsschutz gegen diejenigen vor, die gegen die rechte Gefahr kämpfen und die demokratischen Grundrechte verteidigen. Die Bundesregierung rechtfertigt die geheimdienstliche Überwachung und Diffamierung unserer Partei, indem sie linke und sozialistische Positionen kurzerhand für verfassungsfeindlich erklärt.
Dazu gehört, wie Sie dem Schriftsatz des Bundesinnenministeriums entnehmen konnten, schon das „Streiten für eine egalitäre, demokratische und sozialistische Gesellschaft“, die positive Bezugnahme auf Marx und Engels, die Kritik an Militarismus und Nationalismus sowie die Ablehnung der Europäischen Union. Auf dieser Grundlage könnten Buchläden ebenso kriminalisiert werden wie kritische Sozialwissenschaftler oder streikende Arbeiter.
Aber tatsächlich verstößt nichts davon gegen die demokratische Grundordnung. Ganz im Gegenteil wurden in diesem Land demokratische Grundrechte fast ausschließlich von der revolutionären Arbeiterbewegung erkämpft, die diesen Prinzipien folgte. So war es die marxistische Sozialdemokratie, die gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht eintrat, und erst die revolutionäre Erhebung der Arbeiter und Soldaten 1918 erkämpfte schließlich überhaupt freie und gleiche Wahlen in Deutschland.
Als sämtliche bürgerliche Parteien Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und seine Ermächtigung zum Diktator unterstützten, weil sie sich von ihm die Zerschlagung der organisierten Arbeiterschaft versprachen, wandten sich nur SPD und KPD dagegen. Und es war Leo Trotzki, der vehement für eine Einheitsfront der beiden Arbeiterparteien eintrat, um den Faschismus zu stoppen.
Es ist vielmehr das Bundesinnenministerium, das demokratische Grundrechte angreift und ganz im Geiste des autoritären Obrigkeitsstaates argumentiert, der schon immer gegen Sozialisten vorgegangen war.
So bestätigt es selbst, dass die SGP ihre Positionen ausschließlich mit legalen und demokratischen Mitteln vertritt und nicht zu Gewalt aufruft. Es stützt die geheimdienstliche Überwachung unserer Partei und ihre Diffamierung als linksextremistisch ausschließlich auf die sozialistischen Ideen, die wir vertreten.
Diese Art der Gesinnungsjustiz wurde schon im Kölner Kommunistenprozess von 1852 angewandt, in dem die Angeklagten ausschließlich wegen ihrer politischen Überzeugungen und nicht wegen tatsächlich begangener Straftaten verurteilt wurden. Auch die beiden sozialistischen Arbeiterführer August Bebel und Wilhelm Liebknecht wurden kurz nach der Reichsgründung im März 1872 ausschließlich wegen ihrer publizistischen Tätigkeit gegen den deutschen Militarismus zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt.
Die Nazis trieben diese Rechtstradition der Gesinnungsjustiz auf die Spitze, um den Staatsterror gegen Kommunisten immer weiter zu steigern. Um jeden politischen Gegner ausschalten, ins KZ sperren und töten zu können, wurde die Strafbarkeit immer mehr von konkreten Handlungen getrennt. Bereits in den 1930er Jahren legte der neu geschaffene Volksgerichtshof den Paragrafen 83 zur Vorbereitung von Hochverrat so aus, dass Kommunisten am Ende allein aufgrund ihrer Gesinnung mit dem Tod bestraft werden konnten.
Auch die Behauptung des Bundesinnenministeriums, eine marxistische Klassenanalyse widerspreche der Menschenwürde, ist der Tradition dieser autoritären Regimes entlehnt. Demnach verstoßen nicht Kinderarmut, Obdachlosigkeit oder das Massensterben in der Corona-Pandemie gegen die Menschenwürde, sondern das Benennen dieser schreienden sozialen Ungleichheit. Wer nicht davon ausgehe, dass sich die Klassengegensätze im Kapitalismus vermindern, sei ein Verfassungsfeind, heißt es.
Das ist eben die Argumentation, mit der Bismarck seine Sozialistengesetze begründete, die gegen jede Organisation gerichtet waren, in der „sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten“.
Diese staatlich verordnete Klassenharmonie stand auch im Zentrum der „Volksgemeinschaft“ der Nazis. Schon bei der Bücherverbrennung im Mai 1933 hieß es in einem der Feuersprüche: „Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky.“
Das Bundesinnenministerium bringt die reaktionäre Logik seiner Argumentation selbst auf den Begriff, wenn es erklärt, eine sozialistische Revolution könne „nicht Ausdruck des Volkswillens sein, weil hierin allenfalls Teile des Volkes ihre Vorstellungen durchsetzen, wohingegen die verfassungsmäßigen Rechte der anderen Teile des Volkes unterdrückt werden“. Dies gelte „unabhängig davon, ob im Zuge der sozialistischen Revolution Gewalt angewendet wird“.
Hier wird das Recht auf Privatbesitz einer schmalen Elite an den Produktionsmitteln zum Supergrundrecht erklärt, dem sich die Mehrheit zu fügen hat. Die letzte Konsequenz aus dieser Argumentation haben Diktatoren wie Hitler, Franco und Pinochet gezogen: Neigt die Mehrheit sozialistischen Ideen zu, sind auch die brutalsten Unterdrückungsmethoden gerechtfertigt, um den Kapitalismus zu verteidigen.
Wie nah das Bundesinnenministerium diesen Konzeptionen ist, offenbart sich auch in dem Vorwurf an unsere Partei, dass wir uns hinter das Gründungsprogramm der Vierten Internationale von 1938 stellen, das die Bewaffnung des Proletariats im Kampf gegen den Faschismus fordert.
Verzeihen Sie, Herr Roth, aber der bewaffnete Aufstand der Arbeiterschaft wäre tatsächlich die einzige Möglichkeit gewesen, die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, den Vernichtungskrieg im Osten und den Holocaust zu verhindern.
Niemand sah das so klar wie Leo Trotzki. Wie kein anderer warnte er vor den Folgen der Machtergreifung der Nazis. Er sah die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen ebenso voraus wie den Zweiten Weltkrieg und sogar die physische Vernichtung der europäischen Juden. In zahlreichen Artikeln und Schriften stritt er für eine Einheitsfront aus SPD und KPD, um den Faschismus zu stoppen.
Die Trotzkisten wurden deshalb von der Gestapo brutal verfolgt. 1937 verurteilte ein Gericht in Danzig in einem spektakulären Prozess zehn Trotzkisten zu langen Gefängnisstrafen. Zu den trotzkistischen Opfern der Nazis zählt auch Abraham Léon, der Autor einer marxistischen Studie zur jüdischen Frage, der im besetzten Belgien und Frankreich illegale sozialistische Arbeit leistete und in den Gaskammern von Auschwitz ermordet wurde. Dass die trotzkistische Bewegung nun wieder verfolgt wird, unterstreicht den gefährlichen Rechtsruck der offiziellen Politik.
Besonders übel ist schließlich der Versuch der Gegenseite, das KPD-Verbotsurteil wiederzubeleben und gegen die SGP in Stellung zu bringen. Nicht nur, weil das Urteil von den alten Nazi-Eliten forciert wurde und selbst verfassungswidrig zustande kam, sondern auch, weil es auf die stalinistische KPD abzielte. Das Bundesinnenministerium setzt Stalinismus und Trotzkismus sogar explizit gleich, wenn es den Trotzkismus als eine Modifikation des – stalinistisch gemeinten – „Marxismus-Leninismus“ bezeichnet.
In Wirklichkeit verteidigten Trotzki und die Linke Opposition die marxistischen Prinzipien, die in der Oktoberrevolution zur Anwendung kamen, gegen die stalinistische Konterrevolution. Zu diesen Prinzipien gehörte von Anfang an die Demokratie in der Sowjetunion und die Orientierung auf die internationale sozialistische Revolution.
Die Kluft zwischen der stalinistischen Gewaltherrschaft und den wirklich sozialistischen Prinzipien wurde in den Massenmorden der 30er Jahre sichtbar, in denen hunderttausende Kommunisten unter der Anklage des Trotzkismus den Tod fanden. Auch in der DDR wurden Trotzkisten wie Oskar Hippe, der gegen die Stalinisten für Demokratie und Sozialismus kämpfte, zu langen Haftstrafen verurteilt.
Nun erklärt die Bundesregierung, dass wir Trotzkisten, die ersten Opfer der stalinistischen Repression, für diese und ihre pseudomarxistische Rechtfertigung verantwortlich seien! Sie stützt den großen Teil ihrer Argumentation auf die stalinistische Karikatur auf den Marxismus im KPD-Urteil und meint ernsthaft, damit gegen die authentische Stimme des Marxismus argumentieren zu können!
Der Schriftsatz des Bundesinnenministeriums ist Ausdruck der gleichen rechtsradikalen Gesinnung, die der ehemalige Leiter des Bundesverfassungsschutzes, Hans Georg Maaßen, täglich vor sich herträgt, der für die Aufnahme der SGP in den streitgegenständlichen Verfassungsschutzbericht 2017 verantwortlich zeichnet. Im November 2018 wurde Maaßen in den einstweiligen Ruhestand versetzt, nachdem er rechtsradikale Krawalle in Chemnitz geleugnet und von „linksradikalen Kräften innerhalb der SPD“ schwadroniert hatte. Seither vergeht kaum ein Tag ohne neue rechtsradikale Tiraden des ehemaligen Behördenleiters.
Der Verfassungsschutz selbst ist aufs Engste mit den rechtsextremen Terrornetzwerken verwoben, die er teilweise über V-Leute finanziert und steuert. Während sich die Führer dieser Netzwerke zum größten Teil auf freiem Fuß befinden und ihre Strukturen intakt sind, geht der Geheimdienst gegen linke und sozialistische Gruppen vor.
Herr Vorsitzender, hohes Gericht, wenn Sie für diese Behörde und für diese antidemokratische Argumentation entscheiden, hätte das weitreichende Konsequenzen. 76 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes würden sozialistische Ideen wieder für verfassungsfeindlich erklärt. Damit wäre die Grundlage für die geheimdienstliche Überwachung und Ächtung von Buchläden, die marxistische Literatur anbieten, kritischen Wissenschaftlern und streikenden Arbeitern geschaffen. Es wäre der Schritt in einen Polizeistaat.
Das ist auch der Grund, weshalb eine Petition, die wir zur Verteidigung der SGP auf der bekannten Plattform change.org veröffentlicht haben, binnen kurzer Zeit 5240 Unterschriften aus dem deutschsprachigen Raum und zusätzlich viele hundert Unterschriften aus anderen Ländern erhielt.
„Die SGP ist die einzige Partei, die uns Flughafenarbeiter im Kampf gegen den WISAG-Konzern unterstützt hat. Ein Angriff auf die SGP ist ein Angriff auf alle Arbeiter, die gegen Ausbeutung, Entlassungen, Lohnraub und Corona kämpfen“, schreibt etwa Cemaleddin Benli, ein Flughafen-Bodenarbeiter, der von WISAG entlassen wurde und gemeinsam mit seinen Kollegen monatelange Proteste organisierte.
„Es ist eine absolute Undenkbarkeit, dass eine Partei vom Verfassungsschutz kontrolliert wird, die sich für die Sicherheit und den Infektionsschutz unserer Kinder einsetzt. Die SGP ist die einzige Partei, die sich mit Eltern, Kindern und Lehrern zusammengestellt hat und mit #Schattenfamilien gekämpft hat, damit sie in der Pandemie nicht untergehen!“, schreibt Claudia, ein Mitglied der Aktionskomitees für sichere Bildung.
Wir überreichen Ihnen die 5457 Unterschriften und die zahllosen Kommentare von Arbeitern, Jugendlichen und Intellektuellen, die dieser Verhandlung größte Bedeutung beimessen und aufs Schärfste gegen die antidemokratische Argumentation des Bundesinnenministeriums protestieren.