Seit einer Woche verhandeln die führenden Vertreter von CDU, CSU und SPD abgeschottet von der Öffentlichkeit über den Koalitionsvertrag der zukünftigen Bundesregierung. Ob sie sich in dieser Woche einigen, ist nicht sicher. Selbst ein Scheitern der Verhandlungen gilt nicht als völlig ausgeschlossen. Der ursprünglich angestrebte Termin, CDU-Chef Friedrich Merz noch vor Ostern zum neuen Bundeskanzler zu wählen, dürfte auf jeden Fall nicht mehr einzuhalten sein.
Das Programm der neuen Regierung stand eigentlich bereits am 18. März fest, als der Bundestag eine Billion Euro für Aufrüstung und Krieg bereitstellte. Die erforderliche Verfassungsänderung wurde auch von den Grünen und – im Bundesrat – von der Linkspartei unterstützt. Die größte Aufrüstungsoffensive seit Hitler soll Deutschland wieder zu einer militärischen Großmacht machen und sicherstellen, dass der Krieg gegen Russland in der Ukraine auch ohne amerikanische Unterstützung weitergeht.
In diesen Fragen herrscht zwischen Union und SPD volle Übereinstimmung. Wenn es in den Koalitionsverhandlungen nun trotzdem knirscht, dann weil es um den Sozialabbau und um die Kürzungen geht, mit denen die gewaltigen Summen für Aufrüstung und Krieg wieder hereingeholt werden sollen. Auch hier sind sich alle Parteien im Grundsatz einig, doch die konkrete Umsetzung erzeugt erhebliche Reibungen und Spannungen.
Die SPD, die mit 16 Prozent das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte erzielte, fürchtet, völlig in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, wenn sie sich erneut offen als Partei der Rentenkürzungen und des Sozialabbaus präsentiert. Sie hat außerdem zugesagt, die Parteimitglieder vor der Kanzlerwahl über den Koalitionsvertrag abstimmen zu lassen, was scheitern könnte, wenn die Amtsträger, Parteifunktionäre und Gewerkschaftsbürokraten, die den Kern der Mitgliedschaft ausmachen, um ihren Job fürchten müssen.
Der CDU wiederum haben viele Anhänger nicht vergeben, dass Merz bei der Schuldenbremse eine Kehrtwendung um 180 Grad vollzogen hat. Hatte er im Wahlkampf noch auf ihre Einhaltung gepocht, riss er mit dem Billionen-Aufrüstungspaket sämtliche Dämme nieder, die den Anstieg der Schulden bremsten. In einer jüngsten Umfrage fiel die Partei auf 24 Prozent und lag damit erstmals gleichauf mit der AfD, die deutlich hinzugewann.
Die Koalitionäre versuchen deshalb einen Formelkompromiss zu finden, der es beiden Seiten erlaubt, das Gesicht zu wahren. Die 16 Arbeitsgruppen, die bis Ende März aufgelistet haben, in welchen Fragen SPD und Union übereinstimmen und wo es Unterschiede gibt, konnten vor allem bei den Themen „Arbeit und Soziales“ sowie „Haushalt, Steuern, Finanzen“ wenig Gemeinsamkeiten finden.
Hier sollen nun die Parteispitzen für einen reibungslosen Start der Regierung sorgen. Darin besteht die eigentliche Aufgabe des Koalitionsvertrags. Danach landet er in der Ablage. Noch keine deutsche Regierung hat sich bei wichtigen Entscheidungen an solche Verträge gehalten.
Die Agenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die den umfassendsten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik einleitete, fand sich vorher ebenso wenig im Koalitionsvertrag, wie die Milliardensummen, mit denen die Regierung von Angela Merkel 2008 die Banken „rettete“, oder das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, mit dem Kanzler Olaf Scholz (SPD) die „Zeitenwende“ zum Militarismus eröffnete.
Die kommende Regierung wird, ganz unabhängig davon, was im Kleingedruckten des Koalitionsvertrags steht, eine Regierung der Aufrüstung, des Kriegs und des Klassenkriegs sein. Wirtschaftsverbände und Ökonomen, die in der Bundespolitik den Ton angeben, drängen darauf, dass nach der Aufhebung der Schuldenbremse für die Rüstung jetzt erst recht gespart werden muss.
Mehr als 60 Wirtschaftsverbände haben einen Brandbrief an die Vorsitzenden von CDU, CSU und SPD geschickt, in dem es heißt: „In den vergangenen Wochen hat sich die wirtschaftliche Lage dramatisch zugespitzt, doch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Koalitionsverhandlungen zeigen sich von diesen Entwicklungen scheinbar unbeeindruckt.“ Die bisher bekanntgewordenen Ergebnisse seien „unzureichend“, in vielen Bereichen würden „die wachsenden wirtschaftlichen Herausforderungen“ ignoriert.
Dieser Brief wurde geschrieben, bevor US-Präsident Trump seine jüngsten Strafzölle verkündete, die die wirtschaftliche Lage weiter verschärfen.
Der Präsident des Ifo-Instituts Clemens Fuest, der zusammen mit drei weiteren Ökonomen das Billionen-Aufrüstungspaket angeregt hatte, erklärt im Interview mit der Wirtschaftswoche: „Entweder Deutschland leistet mehr oder wir müssen den Gürtel enger schnallen. Es ist eine Illusion, dass wir auf nichts verzichten müssen. Auch die Erwartung, immer weniger arbeiten zu können, ist mittlerweile überholt.“
Laut einem Bericht der taz argumentiert auch die Union: „Wer so viele Schulden aufgenommen hat, muss nun besonders sparen.“ Wo sie dieses Sparpotenzial sehe, sei bekannt: „Beim Bürgergeld und beim Deutschlandticket, das teuer werden soll. Das Rentenniveau soll gedeckelt und Klimasubventionen sowie Entwicklungshilfen sollen eingestampft werden.“
Ganz falsch liege die CDU nicht, so die taz: „Deutschland strapaziert mit den Aufrüstungsschulden seine Kreditwürdigkeit. Um diese zu halten, muss das Wachstum wieder steigen.“ Das wolle die Union über Investitionen und Sozialkürzungen sowie Steuererleichterungen für Unternehmen erreichen.
Die SPD folgt derselben kapitalistischen Logik und versucht lediglich, dies etwas besser zu verbrämen. Mit dem Ausverkauf des Tarifkampfs bei der Post und nun auch im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen, der mehr als 2,5 Millionen Beschäftigte betrifft, hat die eng mit der SPD verbundene Gewerkschaft Verdi bereits den ersten Schritt dafür getan.
Union und SPD sind sich einig, dass Aufrüstung und Krieg nicht nur einen massiven Sozialabbau, sondern auch einen autoritären Staat erfordern, der die Opposition dagegen unterdrückt. In dieser Frage stellten die Arbeitsgruppen kaum Meinungsunterschiede fest.
Das Papier der Arbeitsgruppe 1, „Innen, Recht, Migration und Integration“, liest sich wie die Blaupause für einen Polizeistaat. „Wir begegnen den multiplen Bedrohungen von außen und im Innern mit einer Zeitenwende in der Inneren Sicherheit,“ heißt es einleitend. „Mit gestärkten Sicherheits-, Zivil- und Katastrophenschutzbehörden, zeitgemäßen digitalen Befugnissen, neuen Fähigkeiten und ausreichend Personal starten wir eine Sicherheitsoffensive…“
Das „Spannungsverhältnis zwischen sicherheitspolitischen Erfordernissen und datenschutzrechtlichen Vorgaben“ müsse „neu austariert werden“. Die Befugnisse und die Ausstattung von Polizei und Geheimdiensten sollen massiv ausgeweitet werden. „Antisemitismus“ – in Synonym für Kritik am Genozid an den Palästinensern – soll noch intensiver bekämpft und dazu insbesondere der Tatbestand der Volksverhetzung verschärft werden.
Speerspitze des Angriffs auf demokratische Rechte ist – wie in Trumps USA – das verschärfte Vorgehen gegen Flüchtlinge und Migranten. Seitenweise werden Maßnahmen aufgezählt, um „einen anderen, konsequenteren Kurs in der Migrationspolitik“ einzuschlagen und „die irreguläre Migration wirksam“ zurückzudrängen. In „Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn“ sollen „Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen“ stattfinden – ein klarer Bruch des grundgesetzlich garantierten Rechts auf Asyl.
Die Arbeitsgruppe 12, „Verteidigung, Außen, Entwicklung, Menschenrechte“, erklärt Russland zur „größten und direktesten Bedrohung“ Deutschlands. Es werde bereits in den nächsten Jahren „in der Lage sein, einen Angriff gegen uns und unsere Verbündeten zu führen“ – ein klares Bekenntnis dazu, die Konfrontation mit der Nuklearmacht zu eskalieren. Aber auch China erklärt das Papier zum Feind. Es versuche, „die bestehende internationale Ordnung zu unterminieren und durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen, in der die Rechte des Einzelnen nicht zählen“.
Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges müssten Deutschland und Europa in der Lage sein, „die Sicherheit in Europa maßgeblich selbst zu gewährleisten“. „Deutschlands Führungsverantwortung“ bestehe darin, „Europa zu einem außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähigen Akteur zu machen“. Auch die „tiefe Freundschaft mit Israel“ und dessen Sicherheit als „Teil der deutschen Staatsräson“ werden in dem Papier beschworen.
Die Koalitionsverhandlungen und die bisher bekannt gewordenen Einzelheiten zeigen, dass die USA – wo Trump eine Diktatur errichtet, dem Rest der Welt den Krieg erklärt und dabei auf wachsenden Widerstand stößt – keine Ausnahme sind. Die tiefe Krise des kapitalistischen Systems treibt die herrschende Klasse in jedem Land in Richtung Krieg und Diktatur. Mit ihrer Krieg- und Klassenkriegspolitik ebnen Union und SPD den Weg für die rechtsextreme AfD, deren Politik sie selbst immer offener übernehmen.
Nur eine unabhängige Bewegung der internationalen Arbeiterklasse, die den Kampf gegen Militarismus, Krieg und Sozialabbau mit einem sozialistischen Programm zum Sturz des Kapitalismus verbindet, kann diese gefährliche Entwicklung stoppen.