„Ampel“-Koalitionäre beenden „epidemische Notlage“ trotz Rekordinfektionen

Die Abgeordneten der geplanten „Ampel“-Koalition haben am gestrigen Donnerstag beschlossen, die „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ zum 25. November zu beenden. Dies steht in dem geänderten Infektionsschutzgesetz, das SPD, Grüne und FDP gestern mit ihrer Mehrheit im Bundestag durchgesetzt haben. Es untersagt den Ländern, lebensrettende Shutdown-Maßnahmen zu verhängen, und setzt damit die zentrale Forderung der rechtsextremen AfD und des Finanzkapitals in die Tat um.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, zweiter von rechts, die Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock, zweite von links, und Robert Habeck, links, und der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, rechts, bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin (AP Photo/Markus Schreiber)

Marco Buschmann (FDP), der von Beobachtern als Kandidat für das Amt des Justizministers gehandelt wird, jubelte auf Twitter: „Wir haben Maßnahmen wie Lockdowns, pauschale Schul- und Betriebsschließungen oder Ausgangssperren aus dem Gesetz gestrichen. Diese können nicht mehr angewendet werden.“

Die Gesetzesnovelle wurde gestern Abend im Ministerrat weiter diskutiert; sie kommt am heutigen Freitag im Bundesrat zur Abstimmung. Ihre Anwendung bedroht allein in Deutschland zigtausende Menschenleben. In der vergangenen Woche sind 1.340 Menschen gestorben, und mehr als 300.000 haben sich neu infiziert. Täglich werden jetzt mehr als 50.000 Neuinfektionen gemeldet; am Tag der Bundestagsdebatte meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) nicht weniger als 65.371 Neuinfektionen.

Mit Blick auf die weit höhere Dunkelziffer erklärte am Mittwoch RKI-Präsident Lothar Wieler, hinter den mehr als 50.000 täglichen Neuinfektionen „verbergen sich mindestens noch einmal doppelt oder dreimal so viele“. Die Fallsterblichkeitsrate, so Wieler, betrage 0,8 Prozent: „Das heißt also – und daran ist nichts mehr zu ändern – dass von diesen 52.000 etwa 400 [täglich] sterben werden.“ Allein die Infektionsfälle der vergangenen 30 Tage werden damit den Tod von 6400 Menschen nach sich ziehen. Bis Mitte Dezember wären mindestens 12.000 weitere Menschen tot, selbst wenn die Zahl der täglichen Neuinfektionen von nun an konstant bliebe. In Wirklichkeit verdoppelt sie sich jedoch alle zwei Wochen.

Den verantwortlichen Politikern ist die grausige Bedeutung ihrer Entscheidung vollkommen bewusst. Betriebs- und Schulschließungen wurden im Bundestag von Vertretern aller Parteien vehement ausgeschlossen und mehrere Abgeordnete sprachen offen aus, dass sie nicht beabsichtigen, dem Infektionsgeschehen Einhalt zu gebieten.

„Es werden Menschen sterben“, betonte etwa Manuela Rottmann von den Grünen: „Wir werden es nicht verhindern können.“ Ihre Parteifreundin Katrin Göring-Eckardt bekräftigte: „Die Infektionen können wir nicht zurückdrehen – es werden sich noch viel mehr Leute anstecken und schwer erkranken.“ In dieser Situation sei die wichtigste Aufgabe, dass „die Schulen und Kitas so lange wie möglich geöffnet bleiben“.

SPD-Sprecher Johannes Fechner erklärte im Stile Donald Trumps, man müsse „bei allen Schutzmaßnahmen darauf achten, dass sie nicht mehr negative Auswirkungen haben als sie nutzen“. Diese Argumentation unterscheidet sich nicht von der eines Thomas Friedman (New York Times), wonach das „Heilmittel nicht schlimmer als die Krankheit“ sein dürfe. Sie meint, dass der Wert eines geretteten Lebens stets gegen die dadurch entgangenen Profite aufgewogen werden muss.

Die Ampel-Koalitionäre griffen die Unionsfraktion wütend von rechts an, weil diese für die Beibehaltung der „epidemischen Notlage nationaler Tragweite“ plädierte – hauptsächlich jedoch, um ihrerseits einen Shutdown der Wirtschaft zu verhindern. FDP-Mann Buschmann tobte: „Wollen Sie etwa verfassungswidrige Ausgangssperren, Schul- und Hochschulschließungen?“

Die Linksfraktion brachte einen Entschließungsantrag ein, der verlangte, „in der Gesamtstrategie prioritär Kita- und Schulschließungen zu verhindern“.

Eine wissenschaftliche Einschätzung der Lage kam in der gesamten Debatte nicht vor. Es gab keine einzige Stimme, die die Möglichkeit ins Auge fasste, die Pandemie zu besiegen. Die versammelten Abgeordneten übergingen die Vorschläge führender Virologen und Epidemiologen, die explosive Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus durch einen harten Lockdown einzudämmen und schließlich zu beenden.

„Jeder Tag des Abwartens kostet Menschenleben“, heißt es in einem Brandbrief, den 35 Wissenschaftler an die Bundes- und Landesregierungen richteten. Den Brief haben die Braunschweiger Virologin Melanie Brinkmann und der Kölner Internist Michael Hallek initiiert, unterschrieben haben ihn auch die Intensivmediziner Christian Karagiannidis und Uwe Janssens. Dutzende weitere Wissenschaftler haben sich ihnen seither angeschlossen. Wie es in dem Brief heißt, ist es für sie „unverständlich, dass die Verantwortungsträger dieses Landes eine solche Situation zugelassen haben, obwohl wir inzwischen über wichtige und wirksame Instrumente verfügen, um dem Sars-CoV-2-Virus Einhalt zu gebieten“.

„Ein harter Lockdown inklusive Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen könnte eine Kehrtwende bringen“, erklärte Prof. Kristan Schneider von der Hochschule Mittweida in Sachsen am Dienstag im ARD-Mittagsmagazin, „weil dadurch Kontakte und Ansteckungen vermieden würden“. Die reine Fortsetzung der bisherigen Maßnahmen könne das Anschwellen auf Hunderttausende bis Millionen neuer Ansteckungen in kurzer Zeit nicht verhindern. „Eine allgemeine Impfpflicht würde die Situation in der Simulation leicht entspannen, aber sie käme zu spät, um das aktuelle Infektionsgeschehen zu drosseln. In der Vergangenheit waren die besonders drastischen Maßnahmen auch besonders effektiv. Eine Notbremse und eine Impfpflicht in Kombination wären jetzt das Vernünftigste.“

Die Maßnahmen, die das neue Infektionsschutzgesetz jetzt noch vorsieht, werden auf keinen Fall reichen, um das Massensterben aufzuhalten. Das hat auch die Göttinger Physikerin Viola Priesemann bestätigt, die die Dynamik von Pandemien und anderen Prozessen erforscht. In einem Szenario, in dem „ein bisschen geimpft, ein bisschen geboostert, ein bisschen Maßnahmen“ ergriffen würden, müsse man sich auf Monate hinaus auf überfüllte Intensivstationen einstellen, sagte sie im Interview mit dem NDR Niedersachsen. „Mit 2G und 3G allein werden die Zahlen nicht sinken.“

In der Bundestagsdebatte konzentrierten sich mehrere Abgeordnete darauf, die Bedeutung des Impfens, Boosterns und Testens zu betonen. Aber auch eine verpflichtende Schutzimpfung wird von sämtlichen Parteien strikt abgelehnt und in orwell’scher Manier als „Eingriff in die Freiheit“ bezeichnet. Dabei ist sie sehr populär. Laut ARD-DeutschlandTrend würde eine Mehrheit der Bevölkerung sie begrüßen.

Derweil steigt die Sieben-Tage-Inzidenz immer weiter und betrug gestern bereits 336,9. Schon jetzt sind erneut die alten und verwundbarsten Angehörigen der Gesellschaft am stärksten gefährdet. Nachdem im letzten Winter in den Pflegeheimen alte Menschen zu tausenden starben, wurden die Überlebenden im Frühjahr als erste geimpft. Ausgerechnet deren Impfschutz lässt nun stark nach, und die Impf-Infrastruktur wurde im Spätsommer und Herbst beseitigt, sodass ein erneutes Massensterben in den Altenheimen droht.

Auch an den Schulen ist die Situation hochbrisant. Die jüngeren Kinder unter zwölf Jahren sind nach wie vor ungeimpft, und auch ein Großteil der älteren Jugendlichen hat noch keinen ausreichenden Impfschutz. Dennoch haben die Verantwortlichen den Sommer tatenlos verstreichen lassen, ohne dafür zu sorgen, dass jede Schule mindestens mit guten Luftfilteranlagen ausgerüstet wird. Wenn besorgte Eltern und Lehrer auf Maßnahmen wie der Einhaltung der Maskenpflicht bestehen, wird dies von den Landesregierungen sabotiert. Als in Krefeld die Kommune auf dem Tragen des Mund-und-Nasenschutzes bestand, griff das Land NRW mit der Forderung ein, die Masken abzulegen.

Hinter der Wissenschaftsfeindlichkeit der politisch Verantwortlichen stehen handfeste Interessen. Um die Wirtschaft um jeden Preis offen zu halten und ihre Profite nicht zu gefährden, lehnt die herrschende Klasse notwendige Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie ab und verantwortet ein Massensterben.

Dass das Virus besiegt und eliminiert werden kann, ist wissenschaftlich erwiesen. Dazu ist eine Politik erforderlich, die alle verfügbaren Mittel – Impfungen, Masken, Lockdowns, Schul- und Fabrikschließungen – gleichzeitig zum Einsatz bringt. Parallel dazu muss die Gesellschaft alle betroffenen Arbeiter, Kinder und Familien materiell, psychologisch und sozial unterstützen.

Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und ihre Schwesterorganisationen im Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) haben diese Politik schon im Frühjahr 2020 vorgeschlagen. Sie haben die Internationale Arbeiterallianz unabhängiger Aktionskomitees und ein Netzwerk für sichere Bildung gegründet, um den globalen Kampf gegen die Pandemie zu führen und zu koordinieren.

Schon zweimal hat die World Socialist Web Site ein Webinar organisiert – das letzte am 24. Oktober – bei dem führende internationale Experten zu Worte kamen. Das Ziel besteht darin, der Arbeiterklasse Zugang zu den Erkenntnissen dieser Wissenschaftler zu verschaffen, die in der vorherrschenden Politik kein Gehör finden. Gleichzeitig muss die wachsende Opposition mit einem sozialistischen Programm bewaffnet werden, um das Recht auf Leben gegen die tödliche Logik des kapitalistischen Profitsystems und seiner politischen Vertreter zu verteidigen.

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